Zirkuläres Bauen
Recycling mit Ästhetik
von Joachim Goetz
Mit der Etablierung der Kreislaufwirtschaft soll das Bauen seinen Beitrag zu den Klimazielen der EU leisten. Und dabei die Ästhetik nicht aus dem Blick verlieren.
Wiederverwendete Materialien in der Architektur? Man baut, so ein weit verbreitetes Klischee, doch nur einmal im Leben ein Haus – wenn überhaupt. Soll man sich dabei nun mit Second Hand begnügen?


Die von Avantgardisten (der Baukunst) realisierten Beispiele jedenfalls wirken nicht wie abgeschabte Anzüge vom Flohmarkt. Man sieht den – bislang wenigen – Bauten meistens gar nicht an, dass den (zweit)verwendeten Werkstoffen sozusagen ein weiteres Leben eingehaucht wurde. Das gilt sowohl für die Bauten, die vom Rotterdamer Superuse Studio realisiert wurden, als auch für die von den Münchner Architekten Stenger2 total renovierte Landshuter „Schatztruhe“, das Recyclinghaus von Cityförster in Hannover oder das im Werden begriffene Hamburger „Moringa“ von kadawittfeldarchitektur.
Architekten haben, wie Leuchtturmprojekte und Initiativen illustrieren, die Herausforderung angenommen. Aber es gibt bei dieser fast revolutionären Neudefinition des Bauens noch viele Vorbehalte, Vorurteile und Probleme in der Umsetzung.
Mit so unkonventionellen Vorstellungen ist eine Konsumgesellschaft, in der ein neues Hemd oft weniger kostet als es zu waschen und zu bügeln, doch erstmal überfordert. Auch unter bodenständigen Handwerkern und arrivierten Architekten löste die Idee der Wiederverwendung lange keine stürmische Begeisterung aus. Von der Bauindustrie, die sich dann anders ausrichten müsste oder im schlimmsten Fall nichts mehr zu tun hätte, mal ganz abgesehen.
Auch Bauämter, Verordnungen, Gesetze sind noch nicht richtig auf eine „Circular Economy“ im Bauwesen vorbereitet.
Dabei ist Resteverwertung etwas zutiefst Traditionelles, etwas Weitverbreitetes und beileibe nichts Anrüchiges. Man denke nur an die Küche, in der sich mit Pizza, Paella oder Eintopf Gerichte größter Beliebtheit erfreuen, die ursprünglich als Resteverwertung in Folge eines üppigen Festmahls erfunden wurden. Auch die Patchwork-Technik hat etwa mit den Quilts der Amischen, den uralten japanischen Techniken Ranru und Boro oder dem Flickenteppich aus unserem Kulturkreis eine lange Tradition.
Resteverwertung auf der Baustelle?
Nun muss man der Architektur zugutehalten, dass Bauwerke gemeinhin länger Bestand haben als Klamotten oder Überbleibsel eines Festgelages. Außerdem gibt es nicht nur unter den Denkmälern Exemplare, die hunderte von Jahren auf dem Buckel haben und immer wieder neuen Funktionen und Nutzungen angepasst wurden. Zudem existierte in frühen Zeiten selbst im Bauen eine zugegeben nicht besonders nachahmenswerte Zweitverwertung von (kostbaren) Baustoffen. Die ägyptischen Grab-Pyramiden wurden teils abgetragen, um einfache Häuser zu bauen. Gleiches geschah mit Ritterburgen, deren ruinösen Zustand nicht zuerst Wind und Wetter verursachten – sondern findige Köpfe, die ihre mittelalterlichen Eigenheime lieber mit alten Steinen als mit neuen krummen Hölzern bauten.
Die Verwendung von sogenannten Spolien fand übrigens seit Jahrhunderten auch unter Architekten Anhänger. Dabei handelt es sich meist um Bau-Elemente aus früheren Zeiten und Stilen. Gutes Beispiel: das Bayerische Nationalmuseum in München. Hier wurden vom Historisten Gabriel von Seidl Stile und Zeitalter gekonnt gemixt. So hat man geschnitzte Portale, schmiedeeiserne Gitter, Decken, Wandbilder und vieles mehr dort zum zweiten Mal verbaut.
Die Räume wurden eigens für die Verwendung solcher Elemente entworfen. Ergänzt hat man mit erfundenen und nachempfundenen Architekturdetails. So entstand ein Museumsbau mit einem ganz besonderen, sehr ungewöhnlichen und auf manche:n vielleicht fremdartig wirkenden Flair.
Frei nach Robert Venturis Klassiker „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ entstand kein genialistischer „Architekten-Wurf“, sondern etwas Zusammengebackenes, ein Potpourri der Stile. Das berühmteste Beispiel hierfür ist sicher der Markusdom in Venedig.
Weg von Abriss und Neubau
Nun ändert sich etwas – zumindest in Worten, Forderungen, Manifesten oder der EU-Initiative des New European Bauhaus. Warum? Die Baubranche gerät als Klimakiller in Verruf. Sie ist durch Herstellung und Transport von Baumaterialien sowie den Betrieb von Gebäuden weltweit für 60 % des Materialverbrauchs, 50 % des Massenmüllaufkommens, etwa 40 % der CO2-Emissionen und 20 % des Kunststoffverbrauchs verantwortlich.
Die bislang gängige Praxis von Abriss und Neubau sorgt für ungeahnte Mengen an nutzlosem Bauabfall, da er häufig aus nicht mehr zu trennenden Verbund-Werkstoffen und Misch-Materialien besteht. Der spezielle Sand, der sich für die Herstellung von Beton eignet, wird knapp und teuer. Der von Wind und Wetter rund geschliffene Wüstensand taugt übrigens dafür nicht. Und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch das immer beliebter werdende nachwachsende Baumaterial Holz zur Mangelware wird.
Auch da lohnt ein Blick in die Historie: In der Römerzeit wurden die Wälder Italiens abgeholzt – um Kriegsflotten zu bauen. Nachwachsend war da hauptsächlich die Macchia, das Dornbuschgestrüpp. Nicht positiv wäre, wenn sich etwas Ähnliches im Amazonas-Regenwald und in den Wäldern unserer Breiten wiederholte.
Wie mehr Wiederverwertung gelingen kann, zeigen neben innovativen Projekten und Hochschulkursen auch bemerkenswerte Initiativen, die sich mit „urban mining“ und „harvesting“ beschäftigen.
Re-use-Materialien
In München plant die „initiative zirkulæres bauen“ gemeinsam mit der Kooperative Großstadt e.G. ein Pilotprojekt für zirkuläres Bauen in der Metzgerstraße. Die Initiative, die dabei als Bauteiljäger und Spezialist für die Bauteil-Wiederverwendung fungiert, spannt außerdem ein Netzwerk zwischen Politiker:innen, Fachplaner:innen, Bauherr:innen und Firmen auf.
Die Wiener „materialnomaden“ haben sich als Pioniere für Prozesse zur Kreislaufwirtschaft in Österreich etabliert. Sie erkunden bei leerstehenden Gebäuden, die aufgrund sicherheitstechnischer Vorschriften, wirtschaftlicher oder politischer Entscheidungen abgebrochen werden sollen, den materiellen und kulturellen Wert. Seit der Gründung 2017 haben die Wiener bereits mehr als 60.000 Bauteile aufgenommen und zur Wiederverwendung bereitgestellt.
Vor allem die natürlichen Rohstoffe wie z. B. Holz, Glas, Metall und Stein eignen sich besonders gut. Beim Neubauprojekt magdas Social Business, einem Tochterunternehmen der Caritas der Erzdiözese Wien, wurden vorwiegend im stadtnahen Umfeld „geerntete“ Materialien eingesetzt. Unter den 13,6 Tonnen re-use-Material waren etwa Eichenstabparkett, mobile Trennwandelemente, Aluminium-Lochblechelemente, Natursteinplatten, Kastentüren, Postkästen, Handläufe aus Eiche, Stahlplatten und Lärchenholz, Türzargen und Türblätter sowie Hängeleuchten. Eingespart wurden – auch dank geringer Transportwege – 17,258 Tonnen CO2-Equivalente. Damit könnte man ein Einfamilienhaus über fünf Jahre lang beheizen.
Architektur des Abbruchs
Ähnlich arbeitet das deutsche Impact-Startup Concular, das sich als „Marktführer für die Wiedereinbringung von Materialien“ bezeichnet. Zirkuläres Bauen wird mit Hilfe intelligenter datenbasierter Vermittlung einfacher gemacht. Angeboten wurden und werden etwa Bauteile einer staatlichen Bibliothek in Augsburg oder des Siemens Tagungszentrums in Feldafing, das durch einen Massivholz-Neubau ersetzt werden soll.
Fürs Bauen sind freilich besonders die mineralischen Baustoffe – Naturstein, Ziegel, Beton, etc. – interessant. In diesen ist viel sogenannte graue Energie gespeichert. Ein Workshop des Instituts für Architekturtechnologie an der TU Graz untersuchte unter dem Titel „city remixed“ das Potential des Baustoffrecyclings bei einem Abbruchhaus. Im Ergebnis muss der Rückbau von Gebäuden ähnlich planvoll und detailliert erfolgen wie der Neu- oder Auf-Bau. Um Rohstoffe zurückzugewinnen bedarf es einer „Architektur des Abbruchs“.
Gebaute Beispiele
In Landshut haben Stenger2 Architekten ein über 500 Jahre altes Blockhaus in der Pfettrachgasse sozusagen generalüberholt. Dabei verwendeten sie Balken und Bretter aus einem Landshuter Stadthaus, dessen Dachstuhl rückgebaut wurde. Erneuert wurde nur, was statisch nicht mehr tragfähig war.
Das hohe Alter des Objekts, das einst CO2-neutral mit regionalen Baustoffen gefertigt wurde, nötigte den Architekten und Eignern Respekt ab. Sie wollten diesem Haus, das ein halbes Jahrtausend lang eine Vielzahl unterschiedlicher Nutzungen beheimatete, ein Weiterleben in Form eines „endlosen Gebrauchs“ ermöglichen.
Das bedeutet, dass auch künftige Nutzer das Haus reparieren können sollten. So wurde auf Zement, Kunststoffe, Gips, Dispersion und bitumenhaltige Baustoffe weitgehend verzichtet. Stattdessen feierten fast vergessene Werkstoffe wie Sumpfkalk, Lehmziegel, Ton, Holz, Schilf, Hanf und Leinöl ein fröhliches Revival.
Harvesting – Baustoff ernten
Ein ebenso interessantes Projekt ist die schon 2009 für zwei Kunstsammler gebaute Villa Welpeloo in Enschede. Die Architekten von Superuse Studios aus den Niederlanden wollten überwiegend gebrauchte Materialien verbauen. So wurde die von industriellem Leerstand geprägte Umgebung nach verfügbaren Baustoffen abgegrast und die Funde in einer „Harvest Map“ dokumentiert. Die Funde bestimmten den anschließenden Entwurf. Also eine völlig neuartige architektonische Planungsmethode.
Die Holz-Fassade hatte ein Vorleben in Gestalt von 1000 Kabeltrommeln. Für die Dämmung nahm man Polystyrolplatten aus einem leerstehenden alten Fabrikgebäude, während zur Tragkonstruktion die Stahlträger eines alten Paternosters herhalten mussten. Und die Wandverkleidung des Badezimmers besteht aus eingeschmolzenen und verpressten Kunststoff-Kaffeebechern.
60 Prozent des Baumaterials wurde im Umkreis von 15 Kilometern durch Wiederverwendung gewonnen. Im Vergleich zu einem entsprechenden Neubau konnten so 90 Prozent CO2 eingespart werden.
Aber auch im privaten Umfeld kann man seinen Beitrag leisten und über den Baustoffhandel gebrauchte Materialien beziehen. So können zum Beispiel bereits jetzt über Online-Kataloge historische Ersatzfliesen im Handel bestellt werden. Diese Materialien können, entsprechende Mengen vorausgesetzt, natürlich auch für Neubauprojekte genutzt werden.
Nachhaltige, klimaschonende Kreislaufwirtschaft ist auch in der Bauwirtschaft möglich – aber eine Frage des Wollens. In Sachen Ästhetik sind viele Projekte absolut konkurrenzfähig. Die Wirtschaftlichkeit lässt im Vergleich zu konventionellem Bauen noch zu wünschen übrig. Viele verlangen daher die öffentliche Förderung – im Sinne einer Verwertungs- statt einer Wegwerf-Gesellschaft.
Zitierempfehlung: Joachim Goetz (31.10.2022): Zirkuläres Bauen. Recycling mit Ästhetik https://bayern-design.de/beitrag/zirkulaeres-bauen/

Der Autor Joachim Goetz studierte Architektur in München und Denver/Colorado mit Fächern wie Kunst- und Bauhistorie, Skulptur, Fotografie, Aquarell, Landschafts- und Produktgestaltung. Er arbeitete in Architekturbüros u. a. bei GMP, gewann Wettbewerbe mit Josef Götz und baute ein Haus mit Thomas Rössel und Heinz Franke. Seit 1990 ist er hauptberuflich als Autor tätig, war Redakteur bei Baumeister und WohnDesign. Publikationen erfolgten in nationalen und internationalen Tages‑, Publikums‑, Kunst- und Design-Zeitschriften wie SZ, Madame, AIT, Münchner Feuilleton, AZ oder Design Report. Interviews entstanden – etwa mit Ettore Sottsass, Günter Behnisch, Alessandro Mendini, Zaha Hadid, James Dyson, Jenny Holzer, Walter Niedermayr oder Daniel Libeskind. Zudem arbeitete er für Unternehmen wie Siedle, Phoenix Design, Hyve. Für Sedus wirkte er mitverantwortlich an der ersten digitalen Architekturzeitschrift a‑matter.com (1999–2004) sowie an der Kompetenzzeitschrift „Place2.5“ (2011–2014) mit. Für bayern design und die MCBW ist er immer wieder als Autor tätig. Seine Arbeit wurde von der Bundesarchitektenkammer mit einem Medienpreis für Architektur und Stadtplanung ausgezeichnet. Außerdem berät J. Goetz auch kleinere Unternehmen engagiert in speziellen Design‑, Marketing- und ausgefallenen Fragen.