3. November 2023

Design­pro­zes­se einer neu­en Materialkultur

Rück­blick auf die Aus­stel­lung Material+

Vie­le Her­aus­for­de­run­gen und Kri­sen unse­rer Zeit, wie die Kli­ma­kri­se oder der Ver­lust an Bio­di­ver­si­tät, sind mit Fra­gen über Mate­ria­li­en und Roh­stof­fen ver­bun­den. In der Gesamt­glei­chung der Nach­hal­tig­keit spielt die Mate­ri­al­fra­ge zwar nicht die ein­zi­ge, aber eine sehr wich­ti­ge Rol­le. ⁠Vom 21. April bis zum 3. Sep­tem­ber 2023 zeig­te bay­ern design gemein­sam mit dem Neu­en Muse­um Nürn­berg in den sechs Fas­sa­den­räu­men des Muse­ums die Design­aus­stel­lung „Mate­ri­al+ Zukunfts­fra­gen im Design“.

„Mate­ri­al+“ fokus­sier­te in drei The­men­ab­schnit­ten auf den gesam­ten Lebens­kreis­lauf neu­er Mate­ria­li­en. Neben der Fra­ge der Gewin­nung und Ver­ar­bei­tung von Roh­stof­fen (Res­sour­ce+) the­ma­ti­sier­te die Aus­stel­lung die Lebens­dau­er und Nut­zung der Werk­stof­fe (Zeit+) sowie die Wie­der­ver­wer­tung in natür­li­chen oder tech­ni­schen Kreis­läu­fen (Umwelt+). Als Quer­schnitts­dis­zi­plin blickt Design dabei nicht nur auf die öko­lo­gi­sche Bedeu­tung der Mate­ria­li­en, son­dern auch auf wirt­schaft­li­che, sozia­le und kul­tu­rel­le Kontexte.

Durch krea­ti­ve For­schungs­pro­jek­te, tak­ti­le und visu­el­le Ent­wür­fe und spe­ku­la­ti­ve Anwen­dun­gen mach­ten die Aus­stel­lungs­stü­cke die­se Kon­tex­te und Hin­ter­grün­de erfahr­bar. Sie reg­ten Dis­kur­se über neue und bestehen­de Mate­ria­li­en an und erwei­ter­ten die Mög­lich­kei­ten eines öko­lo­gi­sche­ren Umgangs mit Res­sour­cen. An vie­len Expo­na­ten konn­ten die Besucher:innen able­sen, wie der Design­pro­zess bereits vor der Anwen­dung neu­er Mate­ria­li­en bei der Mate­ri­al­for­schung und ‑ent­wick­lung beginnt. So ver­an­schau­lich­te die Aus­stel­lung auch den Wan­del im Arbeits­be­reich von Designer:innen.

For­schung

Design kann auf unter­schied­li­che Arten mit wis­sen­schaft­li­cher For­schung zusam­men­ar­bei­ten oder selbst For­schung betrei­ben. Im Kon­text neu­er Mate­ria­li­en ließ sich das mit den zwei Begrif­fen „For­schung für Design“ und „For­schung durch Design“ zusammenfassen.

Bei „For­schung für Design“ flie­ßen Erkennt­nis­se unter­schied­li­cher Dis­zi­pli­nen (z.B. Bio­lo­gie, Che­mie, Phy­sik oder auch Öko­no­mie) in Design­pro­jek­te ein. Die­se Art der Zusam­men­ar­beit von For­schung und Design war im Feld der neu­en Mate­ria­li­en bis­lang die häufigste.

„For­schung durch Design“ dage­gen ist ein inno­va­ti­ver For­schungs­an­satz, bei dem die For­schung im Rah­men eines Design­pro­jek­tes oder eines inter­dis­zi­pli­nä­ren For­schungs­pro­jekts erfolgt ist. Vie­le der in der Aus­stel­lung gezeig­ten Bei­spie­le des Bio- oder Mate­ri­al­de­signs waren die­ser Kate­go­rie zuzu­ord­nen. Designer:innen neh­men dabei eine Über­set­zer­rol­le ein und ver­mit­teln zwi­schen der wis­sen­schaft­li­chen Arbeits­welt der Mate­ri­al­for­schung und der Außen­welt der Anwendung.

Durch Pro­to­ty­pen, spe­ku­la­ti­ve Gestal­tung und Sze­na­ri­en kön­nen Designer:innen einer­seits der For­schung neue Aus­rich­tun­gen und Anwen­dungs­be­zü­ge geben. Ande­rer­seits ermög­licht die Teil­ha­be in der Mate­ri­al­for­schung und ‑ent­wick­lung Designer:innen Gestal­tungs­pa­ra­me­ter von Mate­ria­li­en mit­zu­be­stim­men. So kön­nen neue Wege der Ver­ar­bei­tung von Abfall­stof­fen oder nach­wach­sen­den Roh­stof­fen visua­li­siert und vor­ge­schla­gen wer­den, die kon­ven­tio­nell nicht als Werk­stof­fe in Fra­ge gekom­men wären. Auch kön­nen Eigen­schaf­ten der Werk­stof­fe von Designer:innen ziel­ge­rich­tet erforscht und mit­ent­wi­ckelt werden.

Exem­pla­risch für ein inter­dis­zi­pli­nä­res und anwen­dungs­be­zo­ge­nes For­schungs­pro­jekt war das Pro­jekt „Fori­te“ der Archi­tek­tur- und Design­stu­di­os Snøhet­ta und Stu­dio Plas­tique in Zusam­men­ar­beit mit dem Flie­sen­her­stel­ler For­nace Brio­ni. „Fori­te“ unter­such­te die Ent­wick­lung und Gestal­tung von recy­cel­ten Glas­flie­sen aus dem Alt­glas aus¬ran¬gie¬rter Elektrogeräte wie Mikro­wel­len etc. Während für recy­cel­tes Glas übli­cher­wei­se Stan­dards bezüg­lich Trans­pa­renz und Kon­sis­tenz gel­ten, beton­te das Design hier die Vari­anz und Unrein­hei­ten, die durch die Wie­der­ver­wer­tung der Abfall­ma­te­ria­li­en entstehen.

Die wan­deln­de Rol­le von Design in der Mate­ri­al­for­schung zeig­te sich vor allem auch im Bereich des „Biode­signs“, in dem Mate­ria­li­en und Objek­te mit Hil­fe von syn­the­ti­scher Bio­lo­gie oder leben­den Orga­nis­men designt und pro­du­ziert wer­den. Der Pro­dukt­de­si­gner Pro­fes­sor Nitz­an Cohen, der mit dem Pro­jekt „Inno­Cell“ des Design Fric­tion Lab in der Aus­stel­lung ver­tre­ten war, beschreibt die Über­set­zer­rol­le von Designer:innen im „Biode­sign“ wie folgt:

“Biode­sign is an emer­ging field in design also fos­te­ring sus­tainable mate­ri­als deve­lo­p­ment through the aid of living orga­nisms (like bac­te­ria, algae, fun­gi and hybrid cul­tures) in their pro­ces­sing and pro­duc­tion. […] Bes­i­des, mate­ri­al design is a prac­ti­ce in which desi­gners iden­ti­fy unde­r­used resour­ces within arti­fi­ci­al pro­duc­tion or natu­ral envi­ron­ments. […] The­se two disci­pli­nes have many cont­act points and are often inte­gra­ted. Howe­ver, in order to obtain sub­s­tances with spe­ci­fic cha­rac­te­ristics, desi­gners crea­te new tools and opti­mi­ze exis­ting methods bridging sci­en­ti­fic fin­dings, indus­tri­al capa­bi­li­ties and envi­ron­men­tal needs.”

Anwen­dung

Auch bei der Aus­wahl und Anwen­dung neu­er Mate­ria­li­en zeig­te die Aus­stel­lung, dass Designer:innen neben einer mate­ri­al­ge­rech­ten und ästhe­ti­schen Ver­wen­dung ein öko­lo­gisch sinn­vol­ler Ein­satz und eine kul­tu­rel­le Ver­or­tung neu­er Mate­ria­li­en wich­tig sind.

Expo­na­te wie die Kos­me­tik­ver­pa­ckung „Vivo­mer“ von Shell­works, die Akus­tik­pa­nele „Plu­ma Wall Panels“ von mogu oder das Ein­mal­be­steck „Well­com­post“ von Fluid­so­lids und Lukas Scher­rer zeig­ten Kri­te­ri­en einer nach­hal­ti­gen Mate­ri­al­aus­wahl auf. Hier­zu zählt die Her­kunft des Mate­ri­als aus nach­wach­sen­den oder recy­cel­ten Res­sour­cen, der Ein­satz kreislauffähiger Mate­ria­li­en, die Lebens­dau­er, die „opti­mal für die erwartete/erwünschte Pro­dukt­nut­zung“ sein soll­te, die Ver­wen­dung kom­pos­tier­ba­re Mate­ria­li­en sowie die Aus­wir­kun­gen des Mate­ri­als auf bio­lo­gi­sche Viel­falt und sozia­le Aspekte.

Zudem ver­deut­lich­te „Mate­ri­al+“, wie eine sinn­vol­le Anwen­dung neu­er Mate­ria­li­en im Sin­ne eines Cir­cu­lar Designs aus­schau­en kann. Zu den Prin­zi­pi­en des Cir­cu­lar Designs gehö­ren die Zer­leg­bar­keit von Pro­duk­ten für Nutzer:innen und zur Wie­der­ver­wer­tung oder die Ver­wen­dung von Bau­tei­len aus Mono­ma­te­ria­li­en. Da vie­le Sys­te­me des Cir­cu­lar Designs, wie Ver­bin­dung­s­ys­te­me von Kom­po­nen­ten, erst erforscht, erprobt oder stan­dar­di­siert wer­den müs­sen, leis­ten Designer:innen hier auch Ent­wick­lungs­ar­beit. Inter­es­sant in die­sem Kon­text sind auch die Cir­cu­lar Design Gui­de­lines des Indus­trie­de­si­gners Ste­fan Diez.

Exem­pla­risch zeig­te dies das in der Aus­stel­lung aus­ge­stell­te Sofa­sys­tem „Cos­tu­me“ von Ste­fan Diez. Das modu­la­re Sofa ist aus mög­lichst weni­gen Ein­zel­tei­len wie Bezug, Pols­ter, Feder­kis­sen und Innen­struk­tur auf­baut, die jeweils nur aus einem Werk­stoff bestehen. Die Ein­zel­tei­le wer­den nicht ver­klebt, son­dern durch neu gestal­te­te Steck­sys­te­me, Schlau­fen oder Schrau­ben mit­ein­an­der ver­bun­den. Das Sofa kann durch die lösbaren Ver­bin­dun­gen leicht auf­ge­baut und demon­tiert wer­den. Benutzer:innen können zum Rei­ni­gen, Repa­rie­ren oder Umge­stal­ten Ein­zel­tei­le wie Bezüge ein­zeln aus­tau­schen. Und durch den Ein­satz von Mono­ma­te­ria­li­en sind alle Tei­le ein­fa­cher recycelbar.

Neben ange­wand­tem Cir­cu­lar Design ver­an­schau­lich­te die Aus­stel­lung auch die kul­tu­rel­le Dimen­si­on der nach­hal­ti­gen Design­prak­ti­ken. Design mit kreis­lauf­fä­hi­gen Mate­ria­li­en kann nicht nur neue öko­lo­gi­sche Hand­lungs­mus­ter ermög­li­chen, son­dern auch eine nach­hal­ti­ge Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Objek­ten erzeu­gen. Katha­ri­na Schei­dig und Kris­ti­na Stein­hauf ver­wen­de­ten bei­spiels­wei­se für ihre in Regens­burg gefer­tig­ten Schmuck­ur­nen „Urn­fold“ tra­di­tio­nell her­ge­stell­tes Papier mit neu­en Bei­mi­schun­gen aus Wie­sen­schnitt, Tres­ter­res­ten oder See­tang. Mit den Urnen wol­len sie nicht nur nach­hal­ti­ge­re Pro­duk­te her­stel­len, son­dern auch eine per­sön­li­che­re Trau­er­kul­tur ermöglichen.

Mit über 24 Expo­na­ten spie­gel­te „Mate­ri­al+“ die Viel­sei­tig­keit von Design bei der Erfor­schung und Anwen­dung neu­er Mate­ria­li­en wider. Die Mate­ri­al­fra­ge der von bay­ern design kura­tier­ten Aus­stel­lung in Koope­ra­ti­on mit dem Neu­en Muse­um Nürn­berg stand hier­bei auch stell­ver­tre­tend für ande­re Fel­der der öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on, wie bei­spiels­wei­se der Mobi­li­tät. Auch hier wird es in Zukunft nicht nur um die Gestal­tung tech­ni­scher Inno­va­tio­nen gehen, son­dern ver­stärkt auch um deren kul­tu­rel­le und sozia­le Ver­hand­lung und Ein­ord­nung mit­tels Designs.

Kili­an Fabich (Foto: LÉROT)

Kili­an Fabich ist Mit­ar­bei­ter im Pro­jekt­team von bay­ern design und hat die Aus­stel­lung „Mate­ri­al+ Zukunfts­fra­gen im Design“ mit Nadi­ne Kus­sin­ger kura­tiert und orga­ni­siert. Zuvor arbei­te­te er selbst­stän­dig in den Berei­chen Aus­stel­lungs­de­sign und kura­to­ri­sche Pra­xis für ver­schie­de­ne staat­li­che und pri­va­te Muse­en in Deutsch­land und Euro­pa wie dem Neu­en Muse­um Nürn­berg, der Neu­en Samm­lung Mün­chen oder Arter Istan­bul. Kili­an stu­dier­te Aus­stel­lungs­de­sign und Kunst­wis­sen­schaft an der Staat­li­chen Hoch­schu­le für Gestal­tung Karls­ru­he und Archi­tek­tur an der Uni­ver­si­tà Iuav di Venezia.

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Die TV-Sen­dung „Capric­cio“ des Baye­ri­schen Rund­funks berich­te­te am 20.07.2023 aus­führ­lich über die Ausstellung.

Und schließ­lich noch eini­ge Buch­emp­feh­lun­gen zum Thema:

  • Bio Design. Natu­re, Sci­ence, Crea­ti­vi­ty, Tha­mes & Hud­son ltd, London
  • Mate­ri­al Desi­gners, materialdesigners.org
  • Mit Ecode­sign zu einer res­sour­cen­scho­nen­den Wirt­schaft, 2021, Hes­sen Trade & Invest GmbH, Wiesbaden
  • Neri Oxman. Mate­ri­al Eco­lo­gy, The Muse­um of Modern Art, New York
  • Plas­tik. Die Welt neu den­ken, Vitra Design Muse­um, Basel
  • Was­te Age. What can design do? Design Muse­um, London