Designprozesse einer neuen Materialkultur
Rückblick auf die Ausstellung Material+
von Kilian Fabich
Viele Herausforderungen und Krisen unserer Zeit, wie die Klimakrise oder der Verlust an Biodiversität, sind mit Fragen über Materialien und Rohstoffen verbunden. In der Gesamtgleichung der Nachhaltigkeit spielt die Materialfrage zwar nicht die einzige, aber eine sehr wichtige Rolle. Vom 21. April bis zum 3. September 2023 zeigte bayern design gemeinsam mit dem Neuen Museum Nürnberg in den sechs Fassadenräumen des Museums die Designausstellung „Material+ Zukunftsfragen im Design“.
„Material+“ fokussierte in drei Themenabschnitten auf den gesamten Lebenskreislauf neuer Materialien. Neben der Frage der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen (Ressource+) thematisierte die Ausstellung die Lebensdauer und Nutzung der Werkstoffe (Zeit+) sowie die Wiederverwertung in natürlichen oder technischen Kreisläufen (Umwelt+). Als Querschnittsdisziplin blickt Design dabei nicht nur auf die ökologische Bedeutung der Materialien, sondern auch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kontexte.
Durch kreative Forschungsprojekte, taktile und visuelle Entwürfe und spekulative Anwendungen machten die Ausstellungsstücke diese Kontexte und Hintergründe erfahrbar. Sie regten Diskurse über neue und bestehende Materialien an und erweiterten die Möglichkeiten eines ökologischeren Umgangs mit Ressourcen. An vielen Exponaten konnten die Besucher:innen ablesen, wie der Designprozess bereits vor der Anwendung neuer Materialien bei der Materialforschung und ‑entwicklung beginnt. So veranschaulichte die Ausstellung auch den Wandel im Arbeitsbereich von Designer:innen.
Forschung
Design kann auf unterschiedliche Arten mit wissenschaftlicher Forschung zusammenarbeiten oder selbst Forschung betreiben. Im Kontext neuer Materialien ließ sich das mit den zwei Begriffen „Forschung für Design“ und „Forschung durch Design“ zusammenfassen.
Bei „Forschung für Design“ fließen Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen (z.B. Biologie, Chemie, Physik oder auch Ökonomie) in Designprojekte ein. Diese Art der Zusammenarbeit von Forschung und Design war im Feld der neuen Materialien bislang die häufigste.
„Forschung durch Design“ dagegen ist ein innovativer Forschungsansatz, bei dem die Forschung im Rahmen eines Designprojektes oder eines interdisziplinären Forschungsprojekts erfolgt ist. Viele der in der Ausstellung gezeigten Beispiele des Bio- oder Materialdesigns waren dieser Kategorie zuzuordnen. Designer:innen nehmen dabei eine Übersetzerrolle ein und vermitteln zwischen der wissenschaftlichen Arbeitswelt der Materialforschung und der Außenwelt der Anwendung.
Durch Prototypen, spekulative Gestaltung und Szenarien können Designer:innen einerseits der Forschung neue Ausrichtungen und Anwendungsbezüge geben. Andererseits ermöglicht die Teilhabe in der Materialforschung und ‑entwicklung Designer:innen Gestaltungsparameter von Materialien mitzubestimmen. So können neue Wege der Verarbeitung von Abfallstoffen oder nachwachsenden Rohstoffen visualisiert und vorgeschlagen werden, die konventionell nicht als Werkstoffe in Frage gekommen wären. Auch können Eigenschaften der Werkstoffe von Designer:innen zielgerichtet erforscht und mitentwickelt werden.
Exemplarisch für ein interdisziplinäres und anwendungsbezogenes Forschungsprojekt war das Projekt „Forite“ der Architektur- und Designstudios Snøhetta und Studio Plastique in Zusammenarbeit mit dem Fliesenhersteller Fornace Brioni. „Forite“ untersuchte die Entwicklung und Gestaltung von recycelten Glasfliesen aus dem Altglas aus¬ran¬gie¬rter Elektrogeräte wie Mikrowellen etc. Während für recyceltes Glas üblicherweise Standards bezüglich Transparenz und Konsistenz gelten, betonte das Design hier die Varianz und Unreinheiten, die durch die Wiederverwertung der Abfallmaterialien entstehen.
Die wandelnde Rolle von Design in der Materialforschung zeigte sich vor allem auch im Bereich des „Biodesigns“, in dem Materialien und Objekte mit Hilfe von synthetischer Biologie oder lebenden Organismen designt und produziert werden. Der Produktdesigner Professor Nitzan Cohen, der mit dem Projekt „InnoCell“ des Design Friction Lab in der Ausstellung vertreten war, beschreibt die Übersetzerrolle von Designer:innen im „Biodesign“ wie folgt:
“Biodesign is an emerging field in design also fostering sustainable materials development through the aid of living organisms (like bacteria, algae, fungi and hybrid cultures) in their processing and production. […] Besides, material design is a practice in which designers identify underused resources within artificial production or natural environments. […] These two disciplines have many contact points and are often integrated. However, in order to obtain substances with specific characteristics, designers create new tools and optimize existing methods bridging scientific findings, industrial capabilities and environmental needs.”
Anwendung
Auch bei der Auswahl und Anwendung neuer Materialien zeigte die Ausstellung, dass Designer:innen neben einer materialgerechten und ästhetischen Verwendung ein ökologisch sinnvoller Einsatz und eine kulturelle Verortung neuer Materialien wichtig sind.
Exponate wie die Kosmetikverpackung „Vivomer“ von Shellworks, die Akustikpanele „Pluma Wall Panels“ von mogu oder das Einmalbesteck „Wellcompost“ von Fluidsolids und Lukas Scherrer zeigten Kriterien einer nachhaltigen Materialauswahl auf. Hierzu zählt die Herkunft des Materials aus nachwachsenden oder recycelten Ressourcen, der Einsatz kreislauffähiger Materialien, die Lebensdauer, die „optimal für die erwartete/erwünschte Produktnutzung“ sein sollte, die Verwendung kompostierbare Materialien sowie die Auswirkungen des Materials auf biologische Vielfalt und soziale Aspekte.
Zudem verdeutlichte „Material+“, wie eine sinnvolle Anwendung neuer Materialien im Sinne eines Circular Designs ausschauen kann. Zu den Prinzipien des Circular Designs gehören die Zerlegbarkeit von Produkten für Nutzer:innen und zur Wiederverwertung oder die Verwendung von Bauteilen aus Monomaterialien. Da viele Systeme des Circular Designs, wie Verbindungsysteme von Komponenten, erst erforscht, erprobt oder standardisiert werden müssen, leisten Designer:innen hier auch Entwicklungsarbeit. Interessant in diesem Kontext sind auch die Circular Design Guidelines des Industriedesigners Stefan Diez.
Exemplarisch zeigte dies das in der Ausstellung ausgestellte Sofasystem „Costume“ von Stefan Diez. Das modulare Sofa ist aus möglichst wenigen Einzelteilen wie Bezug, Polster, Federkissen und Innenstruktur aufbaut, die jeweils nur aus einem Werkstoff bestehen. Die Einzelteile werden nicht verklebt, sondern durch neu gestaltete Stecksysteme, Schlaufen oder Schrauben miteinander verbunden. Das Sofa kann durch die lösbaren Verbindungen leicht aufgebaut und demontiert werden. Benutzer:innen können zum Reinigen, Reparieren oder Umgestalten Einzelteile wie Bezüge einzeln austauschen. Und durch den Einsatz von Monomaterialien sind alle Teile einfacher recycelbar.
Neben angewandtem Circular Design veranschaulichte die Ausstellung auch die kulturelle Dimension der nachhaltigen Designpraktiken. Design mit kreislauffähigen Materialien kann nicht nur neue ökologische Handlungsmuster ermöglichen, sondern auch eine nachhaltige Identifikation mit Objekten erzeugen. Katharina Scheidig und Kristina Steinhauf verwendeten beispielsweise für ihre in Regensburg gefertigten Schmuckurnen „Urnfold“ traditionell hergestelltes Papier mit neuen Beimischungen aus Wiesenschnitt, Tresterresten oder Seetang. Mit den Urnen wollen sie nicht nur nachhaltigere Produkte herstellen, sondern auch eine persönlichere Trauerkultur ermöglichen.
Mit über 24 Exponaten spiegelte „Material+“ die Vielseitigkeit von Design bei der Erforschung und Anwendung neuer Materialien wider. Die Materialfrage der von bayern design kuratierten Ausstellung in Kooperation mit dem Neuen Museum Nürnberg stand hierbei auch stellvertretend für andere Felder der ökologischen Transformation, wie beispielsweise der Mobilität. Auch hier wird es in Zukunft nicht nur um die Gestaltung technischer Innovationen gehen, sondern verstärkt auch um deren kulturelle und soziale Verhandlung und Einordnung mittels Designs.
Zitierempfehlung: Kilian Fabich (03.11.2023): Designprozesse einer neuen Materialkultur. Rückblick auf die Ausstellung Material+ https://bayern-design.de/beitrag/designprozesse-einer-neuen-materialkultur/
Kilian Fabich ist Mitarbeiter im Projektteam von bayern design und hat die Ausstellung „Material+ Zukunftsfragen im Design“ mit Nadine Kussinger kuratiert und organisiert. Zuvor arbeitete er selbstständig in den Bereichen Ausstellungsdesign und kuratorische Praxis für verschiedene staatliche und private Museen in Deutschland und Europa wie dem Neuen Museum Nürnberg, der Neuen Sammlung München oder Arter Istanbul. Kilian studierte Ausstellungsdesign und Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Architektur an der Università Iuav di Venezia.
Weiterführende Informationen
Die TV-Sendung „Capriccio“ des Bayerischen Rundfunks berichtete am 20.07.2023 ausführlich über die Ausstellung.
Und schließlich noch einige Buchempfehlungen zum Thema:
- Bio Design. Nature, Science, Creativity, Thames & Hudson ltd, London
- Material Designers, materialdesigners.org
- Mit Ecodesign zu einer ressourcenschonenden Wirtschaft, 2021, Hessen Trade & Invest GmbH, Wiesbaden
- Neri Oxman. Material Ecology, The Museum of Modern Art, New York
- Plastik. Die Welt neu denken, Vitra Design Museum, Basel
- Waste Age. What can design do? Design Museum, London