Kulturelle Kehrtwende beim Bauprozess
Systemwandel in der Architektur
von Joachim Goetz
Die Europäische Kommission hat eine visionäre Initiative für mehr Nachhaltigkeit, Ästhetik, Inklusivität in der Bauwirtschaft gestartet.
Neue Ideen braucht die ganze Welt. Eine davon ist das Neue Europäische Bauhaus, kurz NEB. Damit überraschte uns im Herbst 2020 die EU-Kommission mit Ursula von der Leyen. Mit der von Walter Gropius 1919 in Weimar gegründeten historischen Bauhaus-Schule hat das Projekt hauptsächlich eine große Gemeinsamkeit: es soll einen Wertewandel einläuten.
Dabei geht es darum, den Green Deal im Sektor Architektur und Städtebau und darüber hinaus anzutreiben. Bis 2050 will die EU die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf Null reduzieren und als erster „Kontinent“ klimaneutral werden. Dazu muss das Bauen, das in Sachen CO2-Ausstoß mit mehr als 40 Prozent der weltweiten Emissionen an vorderster Front mitmischt, klimaverträglicher werden.
Eine Renovierungswelle soll die EU zu einem Spitzenreiter in Sachen Kreislaufwirtschaft machen. Aber nicht nur Nachhaltigkeit wird angestrebt, sondern ein Systemwandel, der sich mit einem eigenen Gefühl und Gesicht manifestiert. Also auch eine eigene Ästhetik kreiert. So soll das NEB ein Raum werden, in dem Architekten, Künstler, Studenten, Ingenieure und Designer gemeinsam und kreativ an der Realisierung der Welt von morgen mitwirken. Das klingt ganz nach Anspruch. „Brücken zwischen der Welt der Wissenschaft und Technologie, der Kunst und Kultur“ sollen geschlagen werden. Das hingegen klingt abstrakt.
Die Vision wird dann – wie eigentlich auch viele andere geplante Maßnahmen – schnell konkret. Gedacht wird an direkt erfahrbare Veränderungen vor Ort, die unser tägliches Leben verbessern – in Gebäuden, im öffentlichen Raum, aber auch in Form von Mode oder Möbeln.
Ein Think-and-Do-Tank
Wie aber läuft die Umsetzung? Immerhin hat die EU im Zeitraum 2021/22 rund 85 Mio. Euro locker gemacht – oder besser: umgeschichtet.
Wesentliche Bausteine des NEB sind fünf Leuchtturmprojekte, die mit jeweils 5 Mio Euro gefördert werden. Dazu kommt ein im Juni abgehaltenes Festival in Brüssel, ein NEB-Labor (Lab) diverse Preise und vieles mehr.
Der „Think-and-Do-Tank“ auf der Ebene der Macher ist das Lab. In dieser projektbezogenen Online-Struktur können sich Teams selbst organisieren sowie Kontakte, Wissen und Expertise austauschen. Finanzierungsmöglichkeiten können geprüft werden, etwa Sachleistungen, EU‑, nationale, regionale, lokale Förderungen oder Sponsoring.
Eingereicht werden können nachhaltige, integrative, schöne Orte, Produkte oder Erfahrungen und Initiativen, um dies zu erreichen. Die Idee dahinter: Man möchte Ergebnisse, die praktisch und reproduzierbar sind, bekannt machen. Wobei von den Veränderungsprozessen Gemeinschaften und Ökosysteme profitieren müssen. Methoden und Werkzeuge der partizipativen Gestaltung sind gefragt. Eingeladene Fachleute stellen Kriterien auf, die eine eingereichte Idee schließlich zum NEB-Projekt adeln.
Außerdem gibt es einen High-Level Roundtable. Die Expert:innen, darunter Shigeru Ban, Bjarke Ingels und die junge norwegische Klima-Aktivistin Gina Gylve, erklären ihre Erwartungen an das NEB in ihren auf der Website zu findenden persönlichen Darstellungen. Aufgelistete „Friends“ und „Partner“ – wie Architekturbüros, gestaltungsaffine Unternehmen, Fakultäten, NGOs – unterstützen die Idee.
Fünf Leuchttürme für Europa
Die fünf Leuchtturm-Projekte mit Vorbildfunktion für andere europäische Städte sollen die Übertragbarkeit von Erkenntnissen gewährleisten. Großteils steht die Realisierung noch an. Sie sind als Fallstudien zu betrachten und unter methodisch-wissenschaftlichen Ansätzen zu realisieren.
Ausgewählt wurden unter 40 Anträgen der Cultuurcampus, ein Projekt zur Aufwertung des benachteiligten Südens der Hafenstadt Rotterdam. Das Projekt dockt an ein städtisches Regenerationsvorhaben an. Im Fokus stehen dabei der öffentliche Nahverkehr, der Renovierungsbedarf bei Wohnungen für 200 000 Anwohner:innen und die Verbesserung von Ausbildung und Jobchancen.
Ebenfalls ausgewählt wurde NEB-STAR. Es geht dabei um die klimaneutrale Stadt und wird im norwegischen Stavanger, in Utrecht und in Prag umgesetzt. EHHUR (Eyes Hearts Hands Urban Revolution) ist ein ebenfalls übernationales Vorhaben, das in Dänemark, Griechenland, Türkei, Belgien, Portugal Ungarn, Italien realisiert wird. Man widmet sich den räumlichen Bedarfen historischer Stadtzentren, die von Zerfall und Bevölkerungsschwund betroffen sind. Weitere Maßnahmen richten sich gegen soziale Ausgrenzung und die dort herrschende Energiearmut.
Rückgang der Biodiversität, Zugang zu Ressourcen und Auswirkungen des Klimawandels sind die Themen von DESIRE (Designing the Irrestible Circular Society). Übergeordnete Idee ist die Versöhnung urbaner Strukturen mit der umgebenden Natur. Die Teilprojekte werden in Lettland, Dänemark, den Niederlanden, Italien und Slowenien stattfinden. Initiale Demonstrationsobjekte sind eine städtische Transformation in Kalundborg, Sozialwohnungen in Taastrup und die Umwidmung einer leerstehenden Teerfabrik.
Neuperlach als Vorzeigeprojekt
Nummer Fünf ist das bayerische Projekt namens NEBourhoods. Dabei soll der Münchner Stadtteil Neuperlach zukunftsfähig werden. Die in den 60er Jahren geplante „Entlastungsstadt“ – einst das größte bundesdeutsche städtebauliche Neubauprojekt der Nachkriegszeit – ist in die Jahre gekommen. Kennzeichen: Riesiger achteckiger Gebäude-Ring mit teils 18-geschossigen Hochhäusern, getrennte Infrastruktur für KFZ Kraftfahrzeuge und Fußgänger:innen sowie Nutzungsmischung – die aber großteils aufgegeben wurde.
Die Schwerpunkte des Revitalisierungsprogramms umfassen Gesundheit, Nahrungsmittelversorgung, Energie, Mobilität, Zirkularität, Beteiligt sind zahlreiche Partner, darunter Vereine, Hochschulen, Planer, Verbände, die Stadt oder Unternehmen.
Das Quartier besitzt Stärken und Schwächen. Zum einen herrscht ein starkes Gemeinschaftsgefühl, weiträumige Grünflächen sind vorhanden. In den Wohnbauten existiert ein differenziertes Angebot von Wohnungstypen. Allerdings haftet dem Quartier das Image des sozialen Brennpunkts an. Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit wird konstatiert und ein unterdurchschnittlicher Bildungsgrad.
Wesentliche Schritte und Arbeitsbereiche sind die Sanierung und Nachverdichtung der Bausubstanz oder auch die Umgestaltung des Zentrums, das immer noch etwas an ein Vakuum erinnert.
Es gibt was zu feiern
Durch Stärkung des Gemeinschaftsgefühls eine speziellere Dynamik auszulösen ist das Ziel des erstmals im Juni 2022 in Brüssel abgehaltenen Festivals. Es verleiht den Akteur:innen des Wandels Sichtbarkeit und Präsenz. Fortschritte und Ergebnisse können hier geteilt werden.
Drei Komponenten umfasst das Ganze: Im Forum sollen politische und maßnahmenorientierte Debatten zur Gestaltung von Projekten angestoßen werden. Auf der Messe präsentiert man Projektideen, Prototypen und Ergebnisse sowie Methoden, Instrumente, Technologien, Produkte und Maßnahmeninstrumente. Außerdem initiierte man ein Kulturprogramm mit Ausstellungen auch virtuellen, sowie Aufführungen und Gespräche.
Das NEB-Festival erreichte mit seinen Veranstaltungen in über 20 europäischen Ländern sowie mit digitalen Formaten circa 200.000 Personen – was ja nicht so schlecht ist. Teilnehmende hatten die Möglichkeit, sich zu den Grundsätzen des Neuen Europäischen Bauhauses – Schönheit, Nachhaltigkeit, Inklusion – auszutauschen und auch zu feiern.
Preise müssen sein
Zudem wurden die Gewinner:innen der NEB-Preise verkündet, die in vier Kategorien für jeweils vier Projekte vergeben wurden. Darunter sind sowohl abgeschlossene Vorhaben (NEB Awards) als auch frische Ideen und experimentelle Konzepte junger Talente unter 30 Jahren (NEB Rising Stars).
- In der Kategorie „Rückbesinnung auf die Natur“ konnte sich auch ein deutsches Projekt als Rising Star durchsetzen: Das Symbiotic Spaces Collective schafft mit dem 3D-Drucker artenübergreifende Lebensräume aus Ton für städtische Wildtiere.
- „Gleis 21“, ein Wiener Wohnprojekt, siegte im Sektor „Wiedererlangung des Zugehörigkeitsgefühls“. Neben der in einem innovativen Montageverfahren gefertigten Holz-Hybrid-Konstruktion des Gebäudes gefiel auch der genossenschaftliche Charakter des Konzeptes. Die Bewohner:innen –- gleichzeitig Eigentümer:innen –- waren in den Bauprozess involviert. Wichtig ist ihnen Erschwinglichkeit, Inklusion, Gemeinschaft und Solidarität.
- Im Bereich „Vorrang für Orte und Menschen, die Unterstützung am stärksten benötigen“ gewann das Objekt De Korenbloem in Kortrijk/Belgien. Der Pflegecampus wurde für Menschen mit früh beginnender Demenz, schlaganfallbedingten Behinderungen und somatischen Symptomstörungen gebaut. Die Wohngebäude – zwei eigens gebaute und zwei umfunktionierte Villen, die von einer Parklandschaft umgeben sind – wurden mit einem Netzwerk von verschiedenen Einrichtungen verknüpft. Um die Isolation der Bewohner zu reduzieren, treibt man angepasste, multifunktionale und sozial integrierte Versorgungssysteme voran.
- „Replay“ aus Lissabon gewann im Sektor Zirkuläres Ökosystem. Statt pro Jahr 30 Millionen auf Mülldeponien und in Verbrennungsanlage landender Plastikspielzeuge in Portugal wird Spielzeug gesammelt, repariert, gespendet oder zumindest recycelt.
Schön zeigen die Preise die Bandbreite des NEB-Gedankens. Bleibt zu hoffen, dass die erstaunlich unkonventionelle EU-Initiative trotz aktueller Krisen ihre ambitionierten Ziele erreicht. Möglichst bald.
Zitierempfehlung: Joachim Goetz (26.10.2022): Kulturelle Kehrtwende beim Bauprozess. Systemwandel in der Architektur https://bayern-design.de/beitrag/kulturelle-kehrtwende-beim-bauprozess/
Joachim Goetz studierte Architektur in München und Denver/Colorado mit Fächern wie Kunst- und Bauhistorie, Skulptur, Fotografie, Aquarell, Landschafts- und Produktgestaltung. Er arbeitete in Architekturbüros u. a. bei GMP, gewann Wettbewerbe mit Josef Götz und baute ein Haus mit Thomas Rössel und Heinz Franke. Seit 1990 ist er hauptberuflich als Autor tätig, war Redakteur bei Baumeister und WohnDesign. Publikationen erfolgten in nationalen und internationalen Tages‑, Publikums‑, Kunst- und Design-Zeitschriften wie SZ, Madame, AIT, Münchner Feuilleton, AZ oder Design Report. Interviews entstanden – etwa mit Ettore Sottsass, Günter Behnisch, Alessandro Mendini, Zaha Hadid, James Dyson, Jenny Holzer, Walter Niedermayr oder Daniel Libeskind. Zudem arbeitete er für Unternehmen wie Siedle, Phoenix Design, Hyve. Für Sedus wirkte er mitverantwortlich an der ersten digitalen Architekturzeitschrift a‑matter.com (1999–2004) sowie an der Kompetenzzeitschrift „Place2.5“ (2011–2014) mit.
Für bayern design und die MCBW ist er immer wieder als Autor tätig. Seine Arbeit wurde von der Bundesarchitektenkammer mit einem Medienpreis für Architektur und Stadtplanung ausgezeichnet. Außerdem berät J. Goetz auch kleinere Unternehmen engagiert in speziellen Design‑, Marketing- und ausgefallenen Fragen.