5. August 2024

Was ist Sys­te­mi­sches Design?

Eine Ein­füh­rung
von Sarah Dorkenwald

Wir bewe­gen uns in Sys­te­men, die unser Han­deln, unse­re Pro­duk­te und unse­ren Lebens­raum prä­gen und somit einen beacht­li­chen Ein­fluss auf alle Berei­che unse­res Lebens, wie Sozia­les, Bil­dung, Gesund­heit, Ver­sor­gung, Woh­nen und Arbei­ten haben. Gleich­zei­tig unter­lie­gen die­se Berei­che jeweils eige­nen Sys­te­men, die wie­der­um durch Wer­te, Kul­tur­for­men, Welt­an­schau­un­gen, Mythen und Kon­ven­tio­nen genährt und defi­niert werden.

Bis­her waren bei­spiels­wei­se Arbeits­sys­te­me unter ande­rem von der Vor­stel­lung geprägt, dass der Mann der Haupt­ver­sor­ger ist, wäh­rend die Frau sich um die Kin­der küm­mert. Erst eine Ver­schie­bung von Wer­ten, Life­style sowie kul­tu­rel­len Prä­gun­gen und damit ver­knüpf­ten Rol­len­bil­dern ermög­lich­te ein Umden­ken hin zur ‚Work-Life-Balan­ce‘, bei der bei­de Eltern­tei­le arbei­ten gehen, weil sie Arbeit und Fami­lie bes­ser ver­ein­ba­ren kön­nen und gleich­be­rech­tigt auf­tei­len möch­ten. Äuße­re Fak­to­ren wie die Coro­na­pan­de­mie und die damit ver­knüpf­te Opti­on des Home­of­fice haben sol­che Ver­än­de­rungs­pro­zes­se beschleu­nigt und die Arbeits­welt einem maß­geb­li­chen Wan­del unter­zo­gen. Natür­lich setz­te das bestimm­te Infra­struk­tu­ren vor­aus. Gleich­zei­tig konn­ten durch neue Tech­no­lo­gie-Appli­ka­tio­nen Inno­va­tio­nen geschaf­fen wer­den, die die­sen Trend unter­stütz­ten wie z. B. eine orts­un­ab­hän­gi­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on auf­grund digi­ta­ler Räu­me. Die­se neu­en Arbeits­for­men wir­ken wie­der­um in ande­re Sys­te­me, die der Stadt­pla­nung und Mobi­li­tät, Innen­ar­chi­tek­tur und Pro­dukt­ge­stal­tung oder des sozia­len Miteinanders.

Ver­än­de­run­gen ermög­li­chen neue Arbeits­fel­der und Anwen­dungs­be­rei­che, aber auch Impli­ka­tio­nen über die man sich im Vor­aus oft nicht im Kla­ren ist. Somit gibt es vie­le kau­sa­le Zusam­men­hän­ge, die auf ein Sys­tem wir­ken und die es zu ver­ste­hen gilt, gleich­zei­tig sind in die Zukunft gerich­te­te sys­te­mi­sche Ver­än­de­run­gen mit vie­len unge­wis­sen Fak­to­ren verbunden.

Wie las­sen sich Sys­te­me beein­flus­sen und ver­än­dern? In wel­che Rich­tung sol­len sie sich ver­än­dern und wel­che Rol­le spielt dabei das Sys­te­mi­sche Design?

Sys­te­mi­sches Design, das Ver­än­dern und Gestal­ten von Sys­te­men durch Design, setzt vor­aus, bestehen­de Sys­te­me sehr gut zu ver­ste­hen. Zuerst wird in einem defi­nier­ten Kon­text bestimmt, wer die maß­geb­li­chen Akteur:innen und ihre Bezie­hun­gen zuein­an­der sind. In einem co-krea­ti­ven Pro­zess wer­den die betrof­fe­nen System-Player:innen so invol­viert, dass Per­spek­tiv­wech­sel und ein Dia­log auf Augen­hö­he statt­fin­den kön­nen. Hier­bei setzt das Design mit sei­nen Metho­den und Mög­lich­kei­ten wich­ti­ge Impul­se. Ziel ist, gemein­sam das bestehen­de Sys­tem zu ana­ly­sie­ren und zu hin­ter­fra­gen, um es dann mit neu­en mög­li­chen Nar­ra­ti­ven und Sze­na­ri­en wei­ter­zu­den­ken. Dar­aus las­sen sich im nächs­ten Schritt Zie­le und Maß­nah­men ablei­ten, die die Trans­for­ma­ti­on unterstützen.

Wie könn­te die­ses zukünf­ti­ge Sys­tem aus­se­hen, sich anfüh­len und wie wird es unser Leben ver­än­dern – sagen wir zum Bei­spiel, das Sys­tem? Der Energieversorgung?

Sofort wird klar, das ist ein ver­track­tes und kom­ple­xes The­ma, bei dem wir kei­ne kla­re Vor­stel­lung haben. Eben­falls kön­nen wir kei­ne Nut­zer aus der Zukunft befra­gen, auch zukünf­ti­ge Anfor­de­run­gen sind uns nicht bekannt.

Eileen Man­dir, Exper­tin für Sys­te­mi­sches Design und Pro­fes­so­rin an der Fakul­tät für Design der Hoch­schu­le Mün­chen, stellt in ihrem Buch „Zukünf­te gestal­ten“, das sie zusam­men mit Bene­dikt Groß her­aus­ge­ge­ben hat, eine Samm­lung von Metho­den vor, die hel­fen sol­len, sol­che Pro­zes­se so zu struk­tu­rie­ren, dass sich nicht nur Par­ti­zi­pa­ti­on und neue Erkennt­nis­se dar­aus erge­ben, son­dern auch zu mög­li­chen Zukunfts­stra­te­gien und Inno­va­tio­nen füh­ren. Unter dem Begriff des Design Futu­ring, schla­gen Groß und Man­dir einen Pro­zess und ver­schie­de­ne Metho­den vor, die Betei­lig­te befä­hi­gen soll, sich vie­le ver­schie­de­ne Zukünf­te vor­zu­stel­len, zu dis­ku­tie­ren und zu verhandeln.

Wel­che Metho­den hel­fen uns mög­li­che Zukünf­te zu konstruieren? 

Eine Metho­de, die Eileen Man­dir und Bene­dikt Groß vor­schla­gen, um ein tie­fer­grei­fen­des Ver­ständ­nis über kom­ple­xe sys­te­mi­sche Zusam­men­hän­ge zu erlan­gen und dar­aus mög­li­che Zukunfts­sze­na­ri­en abzu­lei­ten, ist die „Cau­sal Laye­red Ana­ly­sis“ von Sohail Ina­ya­tul­lah, bei der Ein­fluss­fak­to­ren und Hand­lungs­mus­ter anhand einer Unter­tei­lung in vier kau­sa­le Wir­kebe­nen unter­sucht wer­den. Die popu­lä­re und sys­te­mi­sche Ebe­ne sowie Wer­te und Welt­an­schau­ung als auch Mythen und Meta­phern sol­len hel­fen die Logik hin­ter der Lebens­welt bes­ser zu ver­ste­hen. Wobei die popu­lä­re Ebe­ne die tages­ak­tu­el­le Mei­nung abbil­det. Hier kön­nen Schlag­zei­len wie ‚das Eis der Ark­tis schmilzt‘ oder ‚fos­si­le Brenn­stof­fe gehen aus‘ in Betracht gezo­gen wer­den. Die­se Ebe­ne ist ganz oben plat­ziert und sym­bo­li­siert die Spit­ze des Eis­bergs, wäh­rend die unters­te Ebe­ne von Mythen und Meta­phern gebil­det wird.

Auf der sys­te­mi­schen Ebe­ne wer­den Ursa­chen und Sach­zwän­ge benannt, das könn­te sein: ‚der Kapi­ta­lis­mus basiert auf Wachs­tum‘. Wer­te und Welt­an­schau­un­gen machen Zusam­men­hän­ge deut­lich wie zum Bei­spiel die Vor­stel­lung, dass die Indus­tria­li­sie­rung Wohl­stand för­dert. Mythen und Meta­phern spie­geln sich oft in Rede­wen­dun­gen wie ‚Zeit ist Geld‘ wider. Die­se Erkennt­nis­se hel­fen die Gegen­wart zu dekon­stru­ie­ren. In dem für die jewei­li­gen Ebe­nen sich abzeich­nen­de neue Phä­no­me­ne defi­niert wer­den,  kön­nen denk­ba­re Zukünf­te rekon­stru­iert werden.

Wie kann Design die Trans­for­ma­ti­on von Sys­te­men unterstützen?

„Design bedeu­tet in die­sem Kon­text durch Arte­fak­te, aber auch Men­te­fak­te und Sozio­fak­te einen Ver­än­de­rungs­pro­zess anzu­sto­ßen. Hier kann Design zum Bei­spiel in Form einer Inter­ven­ti­on sei­ne sys­te­mi­sche Wir­kung ent­fal­ten. Design ist dann ein Hebel, um etwas sicht­bar zu machen, in Bewe­gung zu brin­gen, die Vor­stel­lungs­kraft anzu­re­gen, damit Ver­än­de­rung mach­bar wird. Gestal­ten für Sys­te­me bedeu­tet also mehr Pro­zess als fer­ti­ges End­pro­dukt.“ erläu­tert Eileen Man­dir in einem Inter­view mit dem Social Design Labs der Hans Sau­er Stiftung.

Was ist das Beson­de­re an Sys­te­mi­schen Design?

Sys­te­mi­sches Design unter­stüt­ze oft­mals auch sozia­len Wan­del und Dis­kurs. Hier wür­den spe­ku­la­ti­ve Sze­na­ri­en oder dis­kur­si­ve Arte­fak­te hel­fen. Manch­mal bräuch­te es aber auch Inter­ven­tio­nen, um Kri­tik üben zu kön­nen, meint Man­dir, die als Wis­sen­schaft­le­rin und Pro­zess­um­set­ze­rin aus der eige­nen Erfah­rung spricht. Für Eileen Man­dir könn­ten so Inno­va­tio­nen in Form von Pro­duk­ten, Ser­vices, Pro­zes­sen, Poli­ci­es entstehen.

Zusam­men­fas­send kann man sagen, dass sys­te­mi­sches Design sich meist über län­ge­re Zeit­räu­me hin­weg grö­ße­ren Kon­tex­ten wid­met. Die­se Kon­tex­te haben einen hohen Grad an Kom­ple­xi­tät. Um eine soli­de Basis zu schaf­fen, die Ver­än­de­run­gen erst mög­lich macht, ist es wich­tig alle maß­geb­lich Betrof­fe­nen eines Sys­tems mit­ge­stal­tend ein­zu­be­zie­hen. Eine mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Aus­ein­an­der­set­zung unter Ein­bin­dung von Vertreter:innen aus Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Zivil­ge­sell­schaft, ist des­we­gen Vor­aus­set­zung. Auch die Gestal­tungs­ebe­nen und ‑absich­ten sind brei­ter und benö­ti­gen eine metho­disch, ana­ly­ti­sche und sys­te­ma­ti­sche Herangehensweise.

Lese­tipp: Bene­dikt Groß, Eileen Man­dir: Zukünf­te gestal­ten. Spe­ku­la­ti­on, Kri­tik, Inno­va­ti­on: Mit Design Futu­ring Zukunfts­sze­na­ri­en stra­te­gisch erkun­den, ent­wer­fen und ver­han­deln. Mainz 2022.

Zitier­emp­feh­lung: Sarah Dor­ken­wald (05.08.2024): Was ist Sys­te­mi­sches Design? https://bayern-design.de/beitrag/wasistsystemischesdesign

Prof. Sarah Dor­ken­wald (Foto: Anna Seibel)
Die diplo­mier­te (Univ.) Desi­gne­rin Sarah Dor­ken­wald prak­ti­ziert in ihrer gestal­te­ri­schen wie theo­re­ti­schen Arbeit eine kri­ti­sche Design­hal­tung. Im Aus­tausch mit ande­ren Dis­zi­pli­nen hin­ter­fragt sie gän­gi­ge Her­an­ge­hens­wei­sen und gesell­schaft­li­che Kon­ven­tio­nen und möch­te mit aktu­el­len Posi­tio­nen im Design Alter­na­ti­ven im Umgang mit Res­sour­cen, Pro­duk­ti­on und Ver­tei­lung sowie des Zusam­men­le­bens auf­zei­gen. Sie ist Pro­fes­so­rin an der Hoch­schu­le für Kom­mu­ni­ka­ti­on und Gestal­tung in Ulm. Zusam­men mit der Design­theo­re­ti­ke­rin Kari­an­ne Fogel­berg hat Sarah Dor­ken­wald das Münch­ner Stu­dio UnDe­sign­U­nit gegrün­det. Sie ver­ei­nen Kom­pe­ten­zen und Metho­den aus dem Design und der Design­theo­rie und arbei­ten an der Schnitt­stel­le zu ande­ren Dis­zi­pli­nen und Wis­sens­for­men. Sarah Dor­ken­wald schreibt regel­mä­ßig für Design­zeit­schrif­ten sowie Fachpublikationen.