In Gedenken an Nina Shell
Die bayerische Designszene hat sich am vergangenen Freitag von Nina Shell (1962–2021) verabschiedet. Die Öffentlichkeit kannte sie als Designjournalistin und begnadete Netzwerkerin. Als Mitarbeiterin von bayern design hat Nina Shell außerdem ganz wesentlich dazu beigetragen, die MUNICH CREATIVE BUSINESS WEEK (MCBW) als Deutschlands größtes Designevent zu etablieren. Der Freundes- und Kollegenkreis reagiert tief betroffen und trauert mit der Familie mit. Boris Kochan, Präsident des Deutschen Designtages, Freund und langjähriger Weggefährte von Nina Shell erinnert sich in einem Nachruf an sie.
Weltmensch mit Herz
Ein Nachruf von Boris Kochan
»Die Form als gute Form, allein für sich gesehen, ist tot, mausetot« … ich kann es spüren, sehe Nina Shell förmlich vor mir, wie sehr sie sich über diesen Satz des langjährigen Leiters der Neuen Sammlung, Prof. Dr. Florian Hufnagl gefreut hat – und natürlich hat sie ihn – etwas verdichtet – zur Überschrift erhoben über das von ihr geführte Interview. Gespräche aller Art waren ihr Metier – ihre Dialogpartner haben sich bei ihr mehr als aufgehoben und verstanden gefühlt: Ohne jeden Anlauf war man mittendrin im Erzählen, im Diskutieren und Neue-Ideen-Entwickeln – immer wieder fröhlich und kreativ, aber auch nachdenklich und hintergründig.
Dabei ist sie den harten Weg des Tageszeitungsjournalismus nach ihrem Amerikanistik-Studium in Würzburg und Oneonta (Otsego County, New York) gegangen – und hat bei der Abendzeitung diese (damals) sehr eigene Form des münchnerischen Boulevards nicht nur kennen, sondern auch zu leben gelernt: In 50 oder 60 Zeilen eine komplette Biografie anschaulich zu erzählen oder »die Geschichte eines rauschenden Abends«. Ihr und all den anderen Zeitungsmachern waren trotz fetter Headlines großer »Weltschmerz und Depression«, das Nur-Ernsthafte und Allzu-Wütende »wesensfremd«. Dieses »Gespür für Stimmungen« in der Gesellschaft, diese grundsätzlich positive und zugleich grantelnd-lässige Einstellung zu München und seinen Bewohnern hat Nina Shell aus ihren Anfangsjahren mitgenommen und in die Designszene getragen..
Hier wurde sie schnell heimisch, als Autorin, Redakteurin und Chefredakteurin von unzähligen Design- und Architekturpublikationen, zum Beispiel den Magazinen md, raumbrand, upgrade und SBK leben, bis zum werktäglichen Newsletter DetailDaily, bei dem sich ihre Beiträge sehr zuverlässig als diejenigen entdecken ließen, die einen weiteren, häufig leise schmunzelnden Blick auf die gern auch etwas skurrilen Ergebnisse von Gestaltungsprozessen geworfen haben. Wenn sie nicht unterwegs war, konnte man sie in der Küche ihrer Wohnung nahe dem Josephsplatz verorten, beim Rauchen, Telefonieren, Schreiben. Dieser improvisierte Schreibtisch war nicht nur Arbeits- und Treffpunkt von Freund*innen und Kolleg*innen, sondern lag auch ziemlich exakt in der Mitte zwischen Schottland, dem Gardasee und der Insel Elba – ihrem Sehnsuchtsdreieck voller Begeisterung für Natur und Menschen, so verschieden diese sein mögen.
Ihre internationalen Erfahrungen wie ihre Vernetzung in der Münchner Kreativszene waren ganz entscheidende Faktoren, um die von ihr von Anfang an für bayern design konzeptionell und organisatorisch mitentwickelte Münchner Designwoche MUNICH CREATIVE BUSINESS WEEK (MCBW) zum größten und bedeutendsten Designevent in Deutschland zu machen. Unermüdlich hat sie – immer und überall in Begleitung ihrer Hunde Sofie, später Lottie –, Unternehmen und Organisationen motiviert, sich an dieser Plattform zu beteiligen, hat sie strategisch begleitet und ihnen bei der Versprachlichung geholfen – mit ihrem entwaffnenden Charme und ihrer legendären Hilfsbereitschaft hat sie die Menschen gewonnen und über alle Grenzen hinweg miteinander verbunden. Viele Veranstaltungen hätte es ohne sie gar nicht erst gegeben …
Bei all dem konnte sich das jeweilige Gegenüber ihrer oft auch schonungslosen, fast schon ungestümen Offenheit sicher sein – mit der sie es sich selbst und anderen nicht immer leicht gemacht hat. Sie, die professionell bis zur Selbstaufgabe war, hatte diesen unbandigen Freiheitsdrang – was münchnerisch eben beides umfasst, dieses in alle Richtungen leidenschaftlich und übermütig Über-die-Stränge-Schlagen und diese Lust auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Ja, liebe Nina, Du zutiefst münchnerisches Original, das ist mein Wort für Dich, die nach vielen Monaten, in denen es Dir nicht gut ging, dann jedoch völlig unerwartet und viel zu früh gestorben ist: unbandig! Danke für mehr Ideen als Vernunft, für den – frei nach Beuys – Wärmecharakter in Deinem Denken. Nicht nur ich, nein, diese kreative Weltstadt mit Herz wird Deine Qualität der Kraft und des Willens vermissen!
Boris Kochan ist Präsident des Dachverbands deutscher Designorganisationen, Deutscher Designtag, Vize-Präsident des Deutschen Kulturrats, Mitglied des MCBW-Beirats und geschäftsführender Gesellschafter der Branding- und Designagentur KOCHAN & PARTNER in München und Berlin.
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