Zukunft verhandeln
Spekulatives Design
von Sarah Dorkenwald
Auf der großen hinterleuchteten Fotografie der britischen Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg ist ein dschungelartiger, dicht gewachsener, saftig grüner Wald zu sehen. Ein Stück wilde Natur, ein intakter Lebensraum, denkt man sich. Schaut man jedoch genauer hin, entdeckt man noch mehr in dem Bild. Fremdartige Elemente – Hybride –, angesiedelt zwischen technischem Produkt und Tier, machen sich da am Boden und an den Baumrinden sowie im Blattwerk breit.
Die scheinbaren Lebewesen sind eigentlich Geräte, die bestimmte Funktionen ausüben. Die einen, eine Art Weichtier-Patrouille, dienen als ‚Bodenbiosanierungseinheit‘ und neutralisieren den übersäuerten Boden. Die anderen – kleine, stachelige, dicke, wurmartige – Wesen fungieren als ‚autonomes Saatgutausbringungsgerät‘ und sollen die lokale Pflanzenvielfalt erhöhen.
Damit der biologische und der technische Kreislauf getrennt voneinander bleiben, sind alle Geräte mit einem 6‑Basen-DNA-Code programmiert, der sie ungenießbar macht und den Verzehr durch natürliche Arten verhindert. Zu jeder dieser Erfindungen gibt es präzise Zeichnungen, Funktionserklärungen und wissenschaftliche Erläuterungen, die gestalterisch inszeniert sind.
Realität oder Fiktion?
Was ist das nun? Heilsversprechen oder Wunschgedanke? Forschungsprojekt oder Zauberei? Schon Realität oder noch Zukunft?
Die künstlerische Arbeit ‚Designing for the Sixth Extinction‘ (2013 – 2015) versucht eine Antwort zu finden auf das aktuelle Artensterben, an dem wir Menschen einen maßgeblichen Anteil haben. Ginsberg stellt ihre Arbeit ins Spannungsfeld von natürlichen und technologischen Möglichkeiten. Was wäre, wenn wir nicht bestehende ‚natürliche‘ Arten versuchen zu schützen, sondern mithilfe der synthetischen Biologie neue Organismen zum ‚Nutzen der Menschheit‘ entwickeln? ‚Designing for the Sixth Extinction‘ ist eine Antwort darauf, wie die Wildnis in einer synthetisch-biologischen Zukunft aussehen könnte. Die nach dem Vorbild von Pilzen, Bakterien, wirbellosen Tieren und Säugetieren entworfenen fiktiven Arten sind ökologische Maschinen, um die Lücke zu schließen, die durch die verschwundenen Organismen entstanden ist.
Mit dieser Arbeit möchte Ginsberg nicht einen möglichen Lösungsansatz suggerieren, sondern genau diesen in Frage stellen. Nicht nur Ginsberg, auch andere Designer:innen untersuchen mit ihren Arbeiten die komplexen Beziehungen in und zwischen Ökosystemen, menschlichen wie nicht-menschlichen Lebensräumen und sowie die Veränderung dieser durch neuen Technologien wie der Biotechnologie, aber auch der künstlichen Intelligenz, smarten Technologien oder dem Metaverse. Sie sehen ihre Aufgabe in der kritischen und multiperspektivischen Untersuchung und Vermittlung möglicher zukünftiger Lebensentwürfe, utopische wie dystopische. Die von ihnen erdachten und narrativ sowie symbolisch aufgeladenen Objekte vermitteln bestimmte Szenarien, die auf einmal durch die unmittelbare Gestaltung Realität zu werden scheinen. Sie wecken in uns Emotionen oder Reaktionen, die eine Sensibilisierung und Auseinandersetzung mit spezifischen, uns als Gesellschaft betreffende Themen in Gang setzen.
Eine noch so ferne Zukunft wird für uns Menschen nicht nur vorstellbar und erlebbar, sondern eben auch verhandelbar. Wir haben dadurch eine weitere Grundlage, um mögliche Konsequenzen unserer Entscheidungen abzuwägen., die aus unseren Entscheidungen resultieren können. Dabei handelt es sich nicht um Science-Fiction, sondern eine wissenschaftliche Methode, die mit den Mitteln der Gestaltung mögliche Zukünfte in den Fokus rückt.
Speculative Everything
Das Spekulative Design bedient sich bei seiner Herangehensweise den kritischen und spekulativen Designmethoden, um einen Denkraum zu eröffnen sowie neue Handlungsmöglichkeiten zur Diskussion zu stellen.
Wichtige Impulse für diesen erweiterten Forschungs- und Gestaltungsbereich im Design setzten Anthony Dunne und Fiona Raby, die dieses Feld maßgeblich prägten. In ihrem Buch ‚Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming’ (The MIT Press, 2013) untersuchen sie Design in seinen erweiterten Möglichkeiten des Spekulierens, Kritisierens und Imaginierens fiktionaler Welten, um gängige Weltanschauungen in Frage zu stellen und ein Spektrum zukünftiger Realitäten zur Diskussion anzubieten.
Dabei möchten sie nicht ‚die eine’ Zukunft voraussagen, sondern zukünftige Möglichkeitsräume durch fiktive Szenarien aufzeigen. Mit Hilfe des Designs werden diese erkennbar und erlebbar, und sie können hinterfragt, verhandelt und unterwandert. Es geht ihnen nicht um das Inszenieren einer Science-Fiction, sondern um das Weiterdenken gegenwärtiger realer Entwicklungen.
„Critical design is critical thought translated into materiality. It is about thinking through design rather than through words and using the language and structure of design to engage people.” (Anthony Dunne und Fiona Raby: ‚Speculative Everything’)
Diese Entwurfspraxis des spekulativen Designs hat sich seit den letzten 15 Jahren insbesondere in der Designlehre und in der kuratorischen Arbeit an Museen etabliert. Auch die Arbeiten von Alexandra Daisy Ginsberg, die ihren Master in Design Interactions sowie ihren PhD by Practice am Royal College of Art in London erlangte, werden international ausgestellt und befinden sich in privaten und musealen Sammlungen.
In einem erweiterten Designverständnis geht es den Designer:innen nicht mehr primär um das Bedienen eines konsumorientierten Marktes, sondern darum, mit ihren konzeptionellen Entwürfen und Zukunftsszenarien vorgefasste Meinungen im Umgang mit Technologien und damit verbundene soziale Auswirkungen zu hinterfragen und zu überwinden. Gestalter:innen machen dabei das, was sie gut können: Sie gestalten visuell kraftvolle Bilder oder Artefakte und entwickeln zukünftige Personas und Szenarien, die als Sinnbild prototypischer Lebenswelten stehen. Dass diese nicht immer heilsversprechend sind, versteht sich von selbst. Die zum Einsatz kommenden gestalteten Modelle erheben nicht den Anspruch, funktionierende Produkte zu sein, sondern dienen dazu, komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Somit positioniert sich das spekulative Design bewusst außerhalb eines auftragsbezogenen und marktwirtschaftlich orientierten Kontextes und kann vorherrschende Praktiken und Konventionen wie einen auf fortwährendes Wachstum ausgerichteten Konsum in Frage stellen. Sein Potenzial liegt darin, keiner unmittelbaren Anwendung verpflichtet zu sein und diese bestätigen oder bestärken zu müssen.
Entstalten statt gestalten
Die Designdisziplin befand sich schon immer in dem Dilemma, zum einen eine lebenswerte Zukunft gestalten zu wollen, zum anderen als Instrument zur Markenbildung, Produktinnovation und Umsatzsteigerung zu dienen. Viele unserer heutigen Probleme haben ihren Ursprung in den Innovationen von gestern. Der kanadische Gestalter Bruce Mau fragte schon 2004 in seiner Publikation und gleichnamigen Ausstellung ‚Massive Change‘: „Now that we can do anything, what will we do?“ und spielt dabei auf die vermeintlichen Interessen und Verstrickungen von Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft an, aber auch darauf, welche Haltung die Designdisziplin hier einnimmt. Daraus ergeben sich Fragen wie: Welche Zukunft wollen wir eigentlich? Wer entscheidet darüber und wer profitiert davon? Ist diese Zukunft tatsächlich alternativlos?
Die transformative Kraft der Gestaltung erkennend werden inzwischen zunehmend Designmethoden von Unternehmen, Forschungseinrichtungen und der Politik aufgegriffen und angewendet. Methoden, Werkzeuge und Denkmodelle, die aus dem Design kommen, sollen helfen, transformative Prozesse multiperspektivisch und transdisziplinär zu begleiten, um komplexen ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen begegnen zu können und alternative Modelle sowie neue Denkweisen in den Fokus zu rücken.
Möglicherweise braucht es dabei kein ‚Mehr‘ an Design, oder ein ‚anderes‘ Design, sondern ein Hinterfragen oder auch ‚Entstalten‘ bestehender Systeme, Umgebungen und Dinge. Partizipative und kollaborative Herangehensweisen sowie kritische und spekulative Designansätze dienen als Katalysatoren und Impulsgeber, um vorgefasste Meinungen sowie konventionelle Herangehensweisen und Zielsetzungen hinter sich zu lassen. Die gestalterischen Disziplinen wie die Kunst oder das Design nehmen hier eine zentrale Rolle ein. Ihre Fähigkeiten, sinnliche Erlebnisse oder partizipativ spielerische Zugänge zu gesellschaftlich kritischen Themen zu generieren, ermöglichen, andere Perspektiven einzunehmen, und regen zum Umdenken an.
Grenzen und Möglichkeiten des spekulativen Designs
Der Anspruch des kritischen und spekulativen Designs liegt sicher darin, mit eigenen Dystopien oder Utopien gängige Prognosen und Zukunftsentwürfe überwinden zu wollen. Das ist nicht einfach, wenn man das Ausmaß sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Zusammenhänge mit seinen Entwürfen weder banalisieren noch verstärken möchte. Die oft unscharfen Probleme, deren Fragestellungen erst noch definiert werden müssen, erfordern eine kollaborative und forschende Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen, um sie in ihrer ganzen Komplexität erfassen zu können.
Gestalterische Disziplinen mit ihren Möglichkeiten der Wissenschaftsvermittlung, aber auch ihrer Expertise, dieses Wissen in Anwendungen zu transferieren und deren Beziehungen und Auswirkungen zu veranschaulichen, sollten von Anfang an in transformativeden Prozessen einbezogen seinwerden. Erst dann hat Design im Allgemeinen und das kritische und spekulative Design im Besonderen das Potenzial, neue Blickwinkel und Handlungsoptionen für die Zukunft – mit Hilfe der Gestaltung von symbolischen und prototypischen Ordnungen und Systemen – zu eröffnen.
„We’re still talking about the same things we did twenty years ago but the shape of the world around them is changing politically, socially, and technologically. In response to this you start changing the way in which you see critical design’s relevance.“ (Rick Poynor mit Anthony Dunne und Fiona Raby ‚Critical World Building’ Interview in: Alex Coles: Design Fiction, Vol.2, Berlin, 2016, S. 49)
Zitierempfehlung: Sarah Dorkenwald (11.09.2023): Zukunft verhandeln. Spekulatives Design https://bayern-design.de/beitrag/zukunft-verhandeln/
Die diplomierte (Univ.) Designerin Prof. Sarah Dorkenwald praktiziert in ihrer gestalterischen wie theoretischen Arbeit eine kritische Designhaltung. Im Austausch mit anderen Disziplinen hinterfragt sie gängige Herangehensweisen und gesellschaftliche Konventionen und möchte mit aktuellen Positionen im Design Alternativen im Umgang mit Ressourcen, Produktion und Verteilung sowie des Zusammenlebens aufzeigen. Sie ist Professorin an der Hochschule für Kommunikation und Gestaltung in Ulm. Zusammen mit der Designtheoretikerin Karianne Fogelberg hat Sarah Dorkenwald das Münchner Studio UnDesignUnit gegründet. Sie vereinen Kompetenzen und Methoden aus dem Design und der Designtheorie und arbeiten an der Schnittstelle zu anderen Disziplinen und Wissensformen. Sarah Dorkenwald schreibt regelmäßig für Designzeitschriften sowie Fachpublikationen.