21. Dezember 2022

Bio­fa­bri­ka­ti­on

Werk­stof­fe der Zukunft

von Sarah Dorkenwald

 

Nach­wach­sen­de Roh­stof­fe wie pflanz­li­che Fasern, Mikro­al­gen, Pilz­my­ze­li­en oder Bak­te­ri­en und orga­ni­sche Rest­stof­fe aus der Lebens­mit­tel­in­dus­trie wie Hül­sen und Scha­len kön­nen mitt­ler­wei­le durch tech­ni­sche Ver­fah­ren in inno­va­ti­ve und voll funk­ti­ons­fä­hi­ge Werk­stof­fe umge­wan­delt wer­den. Mit ihren ver­gleich­ba­ren Eigen­schaf­ten, Funk­tio­nen und Ästhe­tik bie­ten sie eine viel­ver­spre­chen­de Alter­na­ti­ve zu kon­ven­tio­nel­len, auf fos­si­len Brenn­stof­fen basier­ten Mate­ria­li­en, vor allem in Hin­blick auf kreis­lauf­fä­hi­ge Produktlösungen.

Gera­de Designer:innen haben mit ihrem expe­ri­men­tier­freu­di­gen For­scher­drang wich­ti­ge Impul­se in der bio­ba­sier­ten Mate­ri­al­ent­wick­lung gesetzt. Ihre Fähig­keit sowohl neue Wege in der Mate­ri­al­for­schung ein­zu­schla­gen als auch die Anfor­de­run­gen der Pro­duk­ti­on, der Indus­trie und des Mark­tes im Blick zu haben sowie nut­zer­zen­trier­te Anwen­dun­gen zu erdenken, tra­gen wich­ti­ge Grund­la­gen für die Ent­wick­lung der Bio­fa­bri­ka­ti­on bei. Wis­sen­schaft und Wirt­schaft im Zusam­men­schluss mit Design haben Pro­duk­ti­ons­for­men und Nut­zun­gen für Bio­ma­te­ria­li­en ent­wi­ckelt, die immer häu­fi­ger die Bio­di­ver­si­tät der Natur für den Ein­satz von Mate­ria­li­en erschließen.

Orga­ni­sche Roh­stof­fe – die natür­li­che Bio­di­ver­si­tät nutzen

Zum Bei­spiel hat der ita­lie­ni­sche Desi­gner Mau­ri­zio Mon­tal­ti in jah­re­lan­ger, selbst­in­iti­ier­ter For­schung ein Ver­fah­ren ent­wi­ckelt, bei dem Pilz­spo­ren, soge­nann­te Myze­li­en, ein geform­tes Sub­strat aus indus­tri­ell-land­wirt­schaft­li­chen Abfäl­len in einem kon­trol­lier­ten Pro­zess besie­deln, bis ihrem Wachs­tum durch Erhit­zen ein Ende gesetzt wird. Dabei ent­ste­hen sam­tig wei­che, eier­scha­len­far­bi­ge Ele­men­te, die eine eigen­stän­di­ge Typo­lo­gie und Mate­ri­al­äs­the­tik aufweisen.

Maurizio Montalti und Schuhdesignerin Liz Ciokajlo haben im Auftrag des Museum of Modern Art New York spekuliert, ob sich ein Stiefel unterwegs zum Mars aus Myzelium züchten ließe (Copyright: ©Officina Corpuscoli / Maurizio Montalti).
Maurizio Montalti und Schuhdesignerin Liz Ciokajlo haben im Auftrag des Museum of Modern Art New York spekuliert, ob sich ein Stiefel unterwegs zum Mars aus Myzelium züchten ließe (Copyright: ©Officina Corpuscoli / Maurizio Montalti).
Pilzymyzel ist die Basis der Akustikpaneele von MOGU (Copyright: MOGU / Foto: A.WORLD PRODUCTIONS)
Pilzymyzel ist die Basis der Akustikpaneele von MOGU (Copyright: MOGU / Foto: A.WORLD PRODUCTIONS)

Mit sei­nem Start-Up Mogu hat er die­se Form der Mate­ri­al­her­stel­lung unter ande­rem als Akus­tik­pa­nee­le zur Markt­rei­fe gebracht. Aber Mon­tal­ti erforscht nicht nur kon­kre­te Anwen­dun­gen für Myze­li­um-basier­te Mate­ria­li­en. Mit der Schuh­de­si­gne­rin Liz Cio­ka­j­lo hat er im Auf­trag des Muse­um of Modern Art New York einen Mars­stie­fel ent­wor­fen, mit dem er dar­über spe­ku­liert, ob bei einer zukünf­ti­gen Mars­mis­si­on die dort benö­tig­ten All­tags­ge­gen­stän­de wäh­rend der Rei­se aus Pilz­my­ze­li­en gezüch­tet wer­den könnten.

Auch der Münch­ner Unter­neh­mer Sebas­ti­an Thies hat sich für die Ent­wick­lung eines nach­hal­ti­gen Turn­schuhs die Natur zu Eigen gemacht. Er ver­treibt mit sei­ner Mar­ke nat‑2™ vega­ne Schu­he aus Pilz­le­der. Her­ge­stellt wird das Mate­ri­al aus dem Zun­der-Baum­pilz. Das Basis-Mate­ri­al hier­zu wird von der Ber­li­ner Desi­gne­rin Nina Fabert gelie­fert. Mit ihrem Label Zvn­der ent­wi­ckel­te sie ein eher auf­wen­di­ges Ver­fah­ren, bei dem der Zun­der­schwamm, der als Para­sit an geschwäch­ten Bäu­men wie Bir­ken und Buchen, sowie an Tot­holz wächst, getrock­net, geschält und dann von Hand zu einem leder­ar­ti­gen Mate­ri­al wei­ter­ver­ar­bei­tet wird. Als Kom­po­sit aus Bio­tex­ti­li­en und Pilz­le­der kommt er bei den Snea­k­er­mo­del­len von Thies zum Einsatz.

Neben dem Ver­zicht auf Tier­haut hat der Zun­der­schwamm wei­te­re posi­ti­ve Eigen­schaf­ten: So ist die Nut­zung che­mi­ka­li­en­frei und er wirkt anti­sep­tisch und anti­bak­te­ri­ell. In Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren inno­va­ti­ven, hoch­wer­ti­gen Mate­ria­li­en wie Kor­kin­nen­soh­len, Bio­baum­woll-Frot­tee, Micro­fa­ser-Velour aus recy­cle­ten PET-Fla­schen und Echt­gum­mi­soh­len ver­leiht der Baum­pilz den Schu­hen ihren eige­nen unver­kenn­ba­ren Stil.

Leben­de Mate­ria­li­en aus Mikroorganismen

Auch die Ent­wick­lung von Pro­duk­ti­ons­pro­zes­sen auf der Basis von Mikro­or­ga­nis­men und Enzy­men eröff­nen neue Ansät­ze für die Her­stel­lung von Mate­ria­li­en. Hier­bei macht man sich Fer­men­tie­rungs- bzw. Ver­gä­rungs­pro­zes­se zu eigen, wie man sie zum Bei­spiel aus der Erzeu­gung von Alko­hol, Milch­pro­duk­ten oder dem Kom­bu­cha-Getränk kennt. Die­se kom­ple­xe Stoff­um­wand­lung kann mitt­ler­wei­le für eine geziel­te und kon­trol­lier­te Her­stel­lung von Mate­ria­li­en ein­ge­setzt werden.

Das Unter­neh­men AMSilk aus Bay­ern erforsch­te ein Ver­fah­ren, bei dem gen­tech­nisch ver­än­der­te Mikro­ben Spin­nen­sei­de mit den spe­zi­fi­schen Eigen­schaf­ten eines Spin­nen­fa­dens her­stel­len. Das aus Bak­te­ri­en her­ge­stell­te Mate­ri­al ist leicht und fest und zugleich bio­lo­gisch abbau­bar und res­sour­cen­scho­nend her­stell­bar. Die­se bio­tech­no­lo­gisch her­ge­stell­ten Mate­ria­li­en aus leben­der Mate­rie, die sich mit spe­zi­fi­schen Eigen­schaf­ten pro­gram­mie­ren las­sen, sol­len künf­tig Alter­na­ti­ven zu Mate­ria­li­en tie­ri­schen Ursprungs bie­ten und wei­te­re natür­li­che Res­sour­cen erset­zen, die zwar nach­wach­sen, aber oft in agrar­in­dus­tri­el­len Mono­kul­tu­ren erzeugt wer­den und damit der bio­lo­gi­schen Viel­falt scha­den und end­li­che Res­sour­cen erschöpfen.

Abfäl­le als natür­li­che Ressource

Inter­es­sant wird es, wenn orga­ni­sche Rest­stof­fe aus der Land­wirt­schaft zur Her­stel­lung bio­ba­sier­ter Mate­ria­li­en genutzt wer­den. Hier gibt es mitt­ler­wei­le vie­le neue tech­ni­sche Ansät­ze, die es zur Markt­rei­fe gebracht haben, wie Taschen aus Piña­tex, einem Vlies­stoff her­ge­stellt aus Ana­nas­blatt­fa­sern, QMilk, eine Tex­til­fa­ser aus Milch­ab­fäl­len der Lebens­mit­tel­in­dus­trie ent­wi­ckelt von der Mikro­bio­lo­gin und Mode­de­si­gne­rin Anke Domas­ke, Leder aus Fisch­häu­ten von Femer, einem Unter­neh­men der Fran­zö­sin Mari­el­le Philip.

Aber auch Kaf­fee­satz oder Reis­hül­sen kön­nen mitt­ler­wei­le zu Tex­ti­li­en wei­ter ver­ar­bei­tet wer­den. Wert­voll sind die­se neu­en Mate­ri­alin­no­va­tio­nen im Vor­an­trei­ben einer „Cir­cu­lar Eco­no­my“, bei der im bes­ten Fall über­haupt kein Müll mehr anfällt, indem Rest­stof­fe nicht depo­niert oder ver­brannt, son­dern voll­stän­dig in den Pro­duk­ti­ons­kreis­lauf rück­ge­führt werden.

Das Meer als alter­na­ti­ve Produktionsstätte 

Auch Algen wer­den vie­le umwelt­freund­li­che Poten­zia­le zuge­spro­chen. Sie las­sen sich viel­fäl­tig nut­zen, ohne dabei Flä­chen, die bereits für die Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on gebraucht wer­den, zu beset­zen. Der Roh­stoff ist unter öko­lo­gi­schen Gesichts­punk­ten inter­es­sant, da er schnell wächst und dabei CO2 absor­biert. Luma Ate­lier aus Arles züch­tet Mikro­al­gen im Meer für die Her­stel­lung von far­ben­fro­hen form­schö­nen Algen­flie­sen, wodurch ein bio­ba­sier­tes Pro­dukt auch einem öko­lo­gisch vor­teil­haf­te­ren Pro­duk­ti­ons­ver­fah­ren unter­liegt. Der mit Algen ange­rei­cher­te Bio­kunst­stoff, aus dem die Flie­sen in einem indus­tri­el­len Injek­ti­ons­ver­fah­ren geformt wer­den, kann als Wand­ver­klei­dung im Innen- wie Außen­be­reich ein­ge­setzt werden.

Luma Ate­lier wer­den auch in der bay­ern design Aus­stel­lung Mate­ri­al+ ver­tre­ten sein, die in Koope­ra­ti­on mit dem Neu­en Muse­um Nürn­berg ab April 2022 zu sehen ist.

Gestalter:innen neh­men eine Schlüs­sel­rol­le ein

Wenn es dar­um geht, neu­ar­ti­ge Mate­ria­li­en einem brei­ten Publi­kum näher­zu­brin­gen, kommt der Gestal­tung eine Schlüs­sel­rol­le zu. An der Schnitt­stel­le zwi­schen Ent­wick­lung und Anwen­dung arbei­tet auch Suzan­ne Lee, die bei dem in New York ansäs­si­gen Unter­neh­men Modern Mea­dows für das Design ver­ant­wort­lich ist und dar­über hin­aus das inter­na­tio­na­le Bran­chen­tref­fen „Bio­fa­bri­ca­te“ für Bio­tech­no­lo­gien an der Schnitt­stel­le zu Design und Indus­trie gegrün­det hat. Modern Mea­dows arbei­tet mit Kol­la­gen­fa­sern, die aus tie­ri­schen Zel­len gewon­nen wer­den und züch­tet dar­aus unter dem Mar­ken­na­men ZOA ein leder­ähn­li­ches Mate­ri­al im Labor.

Die­se DNA-basier­te Gewe­be­züch­tung zählt, ähn­lich wie die aus Spin­nen­sei­den­pro­te­in gewon­ne­nen Poly­me­re, zu den jüngs­ten Ent­wick­lun­gen der Mate­ri­al­for­schung. Die bri­ti­sche Mode­de­si­gne­rin Stel­la McCart­ney hat bereits ein son­nen­gel­bes Kleid aus die­ser soge­nann­ten Spin­nen­sei­de ent­wor­fen, das Out­door-Label The North Face hat sich die unge­wöhn­li­chen Mate­ri­al­ei­gen­schaf­ten zu Nut­ze gemacht, um einen gleich­zei­tig leich­ten und dabei äußerst robus­ten Parka auf den Markt zu brin­gen. Und auch das baye­ri­sche Unter­neh­men adi­das stellt Snea­k­er aus dem Garn her und kann so bis zu 15% Gewicht gegen­über her­kömm­li­chen Turn­schu­hen einsparen.

Über neu­ar­ti­ge Anwen­dun­gen nach­den­ken kann man auch durch Teil­nah­me in den Poly­pho­nic Futures Work­shops der Künst­le­rin und Desi­gne­rin Vero­ni­ca Ran­ner, die als Pro­fes­so­rin an der Nan­yang Tech­no­lo­gi­cal Uni­ver­si­ty in Sin­ga­pur die Poten­zia­le der Bio-Digi­ta­li­tät und Bio­ma­te­ria­li­en erforscht. In ihrem Sin­ga­pu­rer Stu­dio und in Mün­chen ent­wi­ckelt sie die Biode­sign­pra­xis und ‑for­schung wei­ter, zum Bei­spiel anhand von rever­se-engi­nee­red silk („wie­der­ver­flüs­sig­ter“ Sei­de). Die­ses Smart Mate­ri­al wird als eines der weni­gen die­ser Typo­lo­gie nicht vom mensch­li­chen Gewe­be abge­sto­ßen, son­dern voll­stän­dig absor­biert und eröff­net damit bis dato unbe­kann­te Ein­satz­mög­lich­kei­ten in und am Kör­per. Es kann als Kno­chen- und Gewe­be­er­satz die­nen, aber auch in Form von Bio­sen­so­ren eine digi­ta­le Schnitt­stel­le zum Kör­per her­stel­len. Damit wird ein Spek­trum an neu­ar­ti­gen trag­ba­ren oder implan­tier­ba­ren Gerä­ten denkbar.

Portrait Sarah Dorkenwald (Foto: Anna Seibel)
Sarah Dor­ken­wald (Foto: Anna Seibel)

Die diplo­mier­te (Univ) Desi­gne­rin Sarah Dor­ken­wald prak­ti­ziert in ihrer gestal­te­ri­schen wie theo­re­ti­schen Arbeit eine kri­ti­sche Design­hal­tung. Im Aus­tausch mit ande­ren Dis­zi­pli­nen hin­ter­fragt sie gän­gi­ge Her­an­ge­hens­wei­sen und gesell­schaft­li­che Kon­ven­tio­nen und möch­te mit aktu­el­len Posi­tio­nen im Design Alter­na­ti­ven im Umgang mit Res­sour­cen, Pro­duk­ti­on und Ver­tei­lung sowie des Zusam­men­le­bens auf­zei­gen. Sie ist Pro­fes­so­rin an der Hoch­schu­le für Kom­mu­ni­ka­ti­on und Gestal­tung in Ulm. Zusam­men mit der Design­theo­re­ti­ke­rin Kari­an­ne Fogel­berg hat Sarah Dor­ken­wald das Münch­ner Stu­dio UnDe­sign­U­nit gegrün­det. Sie ver­ei­nen Kom­pe­ten­zen und Metho­den aus dem Design und der Design­theo­rie und arbei­ten an der Schnitt­stel­le zu ande­ren Dis­zi­pli­nen und Wis­sens­for­men. Sarah Dor­ken­wald schreibt regel­mä­ßig für Design­zeit­schrif­ten sowie Fachpublikationen.