17. Oktober 2024

Jörg Som­mer: Design & Demokratie

War­um unse­re Demo­kra­tie mehr Design braucht. Und Design mehr Demokratie.

Vor­trag gehal­ten im Rah­men des Sym­po­si­ums der Social Design Days Nürn­berg am 9. Okto­ber 2024.

„bet­ter tog­e­ther“.  Unter die­sem Mot­to ste­hen die Social Design Days 2024. Nun ist das mit den Mot­tos so eine Sache. Ich weiß das, weil auch ich nicht frei von Jugend­sün­den bin. Eine davon: Die ers­ten Jah­re nach mei­nem Stu­di­um der Poli­tik, mit dem Schwer­punkt Ethik, arbei­te­te ich in Deutsch­lands teu­ers­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Agen­tur. Ein Wider­spruch? Sicher. Von Wider­sprü­chen wer­den wir heu­te noch Eini­ges hören. Wie auch immer: Das Kre­ieren von Mot­tos und grif­fi­gen Slo­gans gehör­te zu mei­nem Kerngeschäft.

  • „Beton. Es kommt drauf an, was man draus macht.“
  • „Frucht­zwer­ge ­­– So wert­voll wie ein klei­nes Steak“
  • „Hof­fent­lich Allianz-versichert“

Die­se und ande­re Slo­gans stam­men aus jener Zeit. Zum Glück habe ich nur einen davon erson­nen. Und ich ver­ra­te Ihnen nicht, wel­chen. Gemein­sam haben sie alle eines: Sie sagen wenig, aber ver­ra­ten viel. Meist vor allem über jene Insti­tu­ti­on, die ihn ver­brei­tet. Manch­mal aber steckt mehr drin in so einem Mot­to. Sehr viel mehr. „bet­ter tog­e­ther“ Könn­te ein sol­ches Mot­to sein. Es gibt Eini­ges her. Vor allem, wie immer bei fremd­spra­chi­gen Aus­sa­gen – weil es kei­ne ein­deu­ti­ge Über­set­zung gibt. Bet­ter heißt Bes­ser. Kei­ne Fra­ge. Aber „tog­e­ther“ kann man ganz unter­schied­lich über­set­zen. Zusam­men könn­te es hei­ßen. Oder Mit­ein­an­der. Aber auch gleich­zei­tig. Und damit beschreibt unser Mot­to heu­te so wun­der­bar auch die gro­ße Her­aus­for­de­rung, vor der unse­re Gesell­schaft geradesteht.

Zusam­men leben wir in unse­rem Land. Aber leben wir auch mit­ein­an­der? So rich­tig klappt es mit dem Mit­ein­an­der gera­de nicht. Wenn wir also über das Bes­ser nach­den­ken wol­len, müs­sen wir genau­er betrach­ten, was gera­de so alles gleich­zei­tig geschieht: Wir erle­ben eine Bevöl­ke­rung in Zukunfts­angst, eine Regie­rung im Dau­er­streit.  Medi­en, die immer weni­ger Men­schen errei­chen. Und denen immer weni­ger Men­schen glau­ben. Wel­len des Has­ses gegen­über ehren- und haupt­amt­li­chen Poli­ti­kern, gegen­über Men­schen mit ande­rer Haut­far­be, ande­rem Glau­ben, ande­rer Natio­na­li­tät. Wäh­ler, die immer wei­ter zu den Rän­dern wan­dern. Demo­kra­tie­ver­äch­ter in den Par­la­men­ten. Mit der Aus­sicht, stär­ker als jede demo­kra­ti­sche Par­tei zu wer­den. Rechts­extre­mis­ten, die in einer Vil­la nahe dem Wann­see eine Kon­fe­renz abhal­ten, bei der sie über die Depor­ta­ti­on von Men­schen mit der fal­schen Gene­tik fan­ta­sie­ren. Der Sati­ri­ker Jan Böh­mer­mann sag­te neulich:

„Wer immer schon mal wis­sen woll­te, wie ‚das mit den Nazis‘ in Deutsch­land ‚damals ein­fach so pas­sie­ren konn­te‘, lebt jetzt in der rich­ti­gen Zeit.“

„Demo­kra­tie ist schmerz­haft, unbe­quem, manch­mal läs­tig und sel­ten der kür­zes­te Weg zu einem Ergebnis.“

Alles wie beim letz­ten Mal? Ja. Und Nein. Ja, denn es gibt erneut Geg­ner der Demo­kra­tie und der frei­heit­li­chen soli­da­ri­schen Gesell­schaft, die weder Anstand noch Moral, noch Skru­pel ken­nen. Ja, denn die­se Geg­ner sind erfolg­reich, weil sie erneut Hass und Lüge als Geschäfts­mo­dell prak­ti­zie­ren. Bei­des sind eben­so leich­te wie wirk­sa­me Hebel, um eine Gesell­schaft zu zer­mür­ben. Wer die Sor­ge hat, zu den Ver­lie­rern einer Kri­se zu gehö­ren, sich aber ohn­mäch­tig fühlt, der ist frus­triert und damit emp­fäng­lich für die Prä­sen­ta­ti­on von Schul­di­gen, auf die er sei­nen Frust pro­ji­zie­ren kann, der längst zum Zorn gewor­den ist, und sei­nen Höhe­punkt im Hass fin­det. Wer sich ohn­mäch­tig fühlt und des­halb die rück­sichts­lo­se Wahr­heit als uner­träg­lich emp­fin­det, der glaubt gern der geschmei­di­gen Lüge. Als kon­ge­nia­les Duo sind Lüge und Hass das per­fek­te Ange­bot der Demo­kra­tie­fein­de seit es die Demo­kra­tie gibt.

Also alles wie beim letz­ten Mal? Mit dem glei­chen, unaus­weich­li­chen Ergeb­nis? Nein. Denn wäh­rend die Geg­ner der Demo­kra­tie ein 100 Jah­re altes Kon­zept neu auf­le­gen, haben wir Demo­kra­ten gelernt. Auch und gera­de, weil wir nun seit einem drei­vier­tel Jahr­hun­dert in einer Demo­kra­tie leben. Weil wir mit ande­ren Demo­kra­tien leben. Mit Ihnen sogar ein demo­kra­ti­sches und frei­heit­li­ches Euro­pa auf­ge­baut haben. Weil wir die­ser demo­kra­ti­schen Tra­di­ti­on nicht nur die längs­te Frie­dens­zeit in der deut­schen Geschich­te ver­dan­ken, den größ­ten Wohl­stand und die größ­te Frei­heit, die wir jemals hat­ten. Und weil zu einer Demo­kra­tie eben auch gehört, dass sie sich stän­dig hin­ter­fragt, auf ver­gan­ge­ne Ent­schei­dun­gen kri­tisch zurück­blickt und den aktu­ell Regie­ren­den das Regie­ren nicht all­zu leicht macht. Wir wis­sen heu­te sehr viel bes­ser als vor 100 Jah­ren, was Demo­kra­tien stärkt. Was sie schwächt. Was sie lähmt. Und was sie umbringt. Wir haben also viel gelernt.

Aber haben wir genug gelernt? Und vor allem: Set­zen wir um, was wir gelernt haben? Und jetzt haben wir uns erwischt. Genau das ist unse­re Schwach­stel­le. Wir wis­sen tat­säch­lich, wie wir’s bes­ser machen kön­nen. Aber wir tun es noch viel zu oft nicht. Oder nur zöger­lich. Oder nur lang­sam. Oder nicht wirk­lich kon­se­quent. Weil der demo­kra­ti­sche Weg, gesell­schaft­li­che Pro­ble­me zu bear­bei­ten, eini­ge gra­vie­ren­de Nach­tei­le hat: Er braucht Zeit. Und Ner­ven. Und Kon­flikt­fä­hig­keit. Und Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz. Und den Umgang damit, Recht zu haben, aber kei­ne Mehr­heit. Demo­kra­tie ist schmerz­haft, unbe­quem, manch­mal läs­tig und sel­ten der kür­zes­te Weg zu einem Ergeb­nis. Des­halb prak­ti­zie­ren wir sie all­zu häu­fig nur dann, wenn wir es müssen.

Und genau da liegt der Hase im Pfef­fer. Unse­re Demo­kra­tie kann weit­aus mehr, als wir ihr zutrau­en und uns zumu­ten wol­len. Demo­kra­tie beruht auf frei­en Wah­len. Aber Demo­kra­tie ist kei­ne Wahl­tech­nik, auch kei­ne Herr­schafts­form. Demo­kra­tie ist ein Modell des Zusam­men­le­bens von Men­schen mit ganz unter­schied­li­chen Erfah­run­gen, Sicht­wei­sen und Inter­es­sen. Wer Demo­kra­tie auf Wah­len redu­ziert, macht sie schwach. Und damit anfäl­lig. Wer sie so ver­steht, sieht tat­säch­lich wenig Handlungsmöglichkeiten.

„Demo­kra­tie zu stär­ken, indem man deren Geg­ner loka­li­siert und „bekämpft“, ist ver­lo­ckend und ver­füh­re­risch. Aber ist es auch wirksam?“

Das Ein­zi­ge, was bleibt, ist die „Geg­ner“ zu iden­ti­fi­zie­ren – und zu bekämp­fen. Doch wer sich bei der Stär­kung der Demo­kra­tie auf deren Geg­ner fokus­siert, der gerät schnell in die Defen­si­ve. Auch des­halb, weil das mit „dem“ Geg­ner gar nicht so leicht ist. Björn Höcke, Chef der AfD in Thü­rin­gen, darf gerichts­fest als Nazi bezeich­net wer­den. Weit über eine Mil­li­on Men­schen haben einen Auf­ruf unter­zeich­net, ihm die Bür­ger­rech­te zu ent­zie­hen. Das ist ver­ständ­lich. Aber wer glaubt ernst­haft, dass man damit die Demo­kra­tie ret­ten könn­te? Nazis als Nazis zu beschimp­fen, hilft nichts. Deren Wäh­ler so ein­zu­sor­tie­ren, bewirkt sogar das Gegen­teil. Demo­kra­tie zu stär­ken, indem man deren Geg­ner loka­li­siert und „bekämpft“, ist ver­lo­ckend und ver­füh­re­risch. Aber ist es auch wirk­sam? Denn an der Legi­ti­mi­tät unse­rer demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen, Akteu­re, Pro­zes­se und Ent­schei­dun­gen krat­zen ja längst nicht nur die Höckes die­ser Welt. Wer ist denn wirk­lich gefähr­lich für unse­re Demo­kra­tie? Sind es die Nazis inner­halb und außer­halb der AfD? Die Reichs­bür­ger? Rechts­ra­di­ka­le? Quer­den­ker aller Schat­tie­run­gen? Kom­men wir wei­ter, wenn wir so den­ken, so Ursa­chen­for­schung betrei­ben? Was bringt es uns, wenn wir die „größ­te Gefahr“ loka­li­sie­ren? Wol­len wir die ent­spre­chen­de Akteurs­grup­pe poli­tisch eli­mi­nie­ren? Ihre demo­kra­ti­schen Mit­wir­kungs­rech­te abspre­chen? Sie umer­zie­hen? Wo führt die­ser Ansatz hin? Immer wie­der erle­ben wir auf ein­schlä­gi­gen Panels ob im Fern­se­hen oder Ver­eins­hei­men die­sel­ben Debat­ten: Demo­kra­ten den­ken dar­über nach, wie man Demo­kra­tie stärkt, indem man bestimm­te Grup­pen bekämpft – oft indem man ihre demo­kra­ti­schen Rech­te beschnei­det. Mög­li­cher­wei­se könn­te da ein Denk­feh­ler vorliegen.

Ver­su­chen wir ein­fach mal, die Sache aus einer ganz ande­ren Per­spek­ti­ve zu betrach­ten. Stel­len wir ein­mal fol­gen­de Hypo­the­se auf: Die größ­te Gefahr für die Demo­kra­tie ist – zu wenig Demo­kra­tie. Kann es sein, dass vie­le Men­schen vor allem des­halb mit der Demo­kra­tie nichts anfan­gen kön­nen, weil wir ihnen kei­ne anbie­ten? Das wür­de bedeu­ten, all die auf­ge­zähl­ten Gefah­ren sind gar kei­ne Gefah­ren, son­dern Gele­gen­hei­ten. Oder Her­aus­for­de­run­gen. Oder Impul­se zur Reflek­ti­on. Vor allem zu der Reflek­ti­on dar­über, was eigent­lich Demo­kra­tie ist, was sie aus­macht, was sie attrak­tiv macht und was Men­schen zu Demo­kra­ten macht oder eben nicht. Wir defi­nie­ren Demo­kra­tie als Men­schen­recht. Das heißt aber nicht, dass sie allen Men­schen ange­bo­ren ist. Wir dür­fen nicht dem Glau­ben erlie­gen, Men­schen wür­den als Demo­kra­ten gebo­ren, und alle, die dann irgend­wann kei­ne mehr sind, wären irgend­wie dys­funk­tio­nal. Demo­kra­tie ist eine Ein­stel­lung und eine Kul­tur­tech­nik. Bei­des ist kei­ne Fra­ge der Gene, son­dern der kul­tu­rel­len Aneig­nung. Demo­kra­ten ent­ste­hen nicht von allei­ne, nicht ver­läss­lich, nicht auto­ma­tisch, aber auch nicht zufällig.

„Man kann Pla­ka­te desi­gnen. Aber kei­ne Demokraten.“

Und da kommt das Design ins Spiel. Nicht das Design von Wahl­pla­ka­ten. Da gibt es wun­der­ba­re. Und durch­schnitt­li­che. Und eine gan­ze Men­ge völ­lig miss­lun­ge­ne. Man kann Pla­ka­te desi­gnen. Aber kei­ne Demo­kra­ten. Und doch kann Design ganz ent­schei­dend dazu bei­tra­gen, unse­re Demo­kra­tie zu stär­ken. Denn social design, gedacht als Bei­trag eben zum „bet­ter tog­e­ther“ ist vor allem eines: Das Design demo­kra­ti­scher Prozesse.

Denn wenn Demo­kra­tie kei­ne gene­ti­sche Ver­an­la­gung ist, dann muss sie ent­wi­ckelt wer­den. Und das geschieht nicht zufäl­lig. Demo­krat wird man nicht, weil man die Funk­ti­on des Bun­des­ta­ges und das deut­sche Wahl­recht in der Schul­klau­sur unfall­frei beschrei­ben kann. Son­dern, indem man sie erlebt. Ihr Wesen. Und das lau­tet: Ich bin kein Unter­tan, son­dern ein Mensch, der ganz wesent­lich über sein eige­nes Leben als Teil einer sozia­len Grup­pe bestim­men kann.

„Erfah­re ich Selbst­wirk­sam­keit, erhöht dies tat­säch­lich mei­ne Bereit­schaft, mich auch in ande­ren Zusam­men­hän­gen auf Dis­kur­se, Dia­lo­ge und demo­kra­ti­sche Pro­zes­se einzulassen.“

Wir wis­sen heu­te sehr genau, dass frü­he Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­rung oft lebens­lan­ge demo­kra­ti­sche Wirk­sam­keit trig­gert. Die Quo­te ehe­ma­li­ger Schü­ler­spre­cher unter deut­schen Par­la­men­ta­ri­ern und Bür­ger­meis­tern, aber auch unter Ver­eins­vor­sit­zen­den ist sen­sa­tio­nell. Erfah­re ich Selbst­wirk­sam­keit, erhöht dies tat­säch­lich mei­ne Bereit­schaft, mich auch in ande­ren Zusam­men­hän­gen auf Dis­kur­se, Dia­lo­ge und demo­kra­ti­sche Pro­zes­se ein­zu­las­sen. Las­se ich mich dar­auf ein, stei­ge­re ich mei­ne Dis­kurs­kom­pe­tenz. Und die ist eben nicht nur Rhe­to­rik, son­dern auch Zuhö­ren kön­nen, Ein­ge­hen auf die Inter­es­sen ande­rer, Wert­schät­zung aus­zu­drü­cken und mit Kri­tik umzu­ge­hen. Erst die­se Dis­kurs­kom­pe­ten­zen ermög­li­chen mir, auch eine der wesent­li­chen Kom­pe­ten­zen in einer Demo­kra­tie zu ent­wi­ckeln: Ver­lie­ren zu kön­nen. Es aus­zu­hal­ten, wenn ich nicht in der Mehr­heit bin. Ergeb­nis­se zu akzep­tie­ren, die mir nicht gefal­len – und demo­kra­ti­sche Wege zu bestrei­ten, um wei­ter für mei­ne Zie­le ein­zu­tre­ten. Je bes­ser ich das beherr­sche, je aus­ge­präg­ter mei­ne Demo­kra­tie­kom­pe­tenz, des­to grö­ßer ist eine Chan­ce auf wei­te­re Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­rung. Für mich, aber auch für Men­schen in mei­nem Umfeld.

Betrach­ten wir die­se demo­kra­ti­sche Spi­ra­le, sehen wir eine Men­ge Her­aus­for­de­run­gen, aber auch Chan­cen, um posi­ti­ve Impul­se zu set­zen. Tat­säch­lich könn­te man an jedem die­ser zen­tra­len Fak­to­ren anset­zen. Mehr Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­run­gen sind gut. Mehr Dis­kurs­be­reit­schaft sinn­voll. Mehr Dis­kurs­kom­pe­tenz för­der­lich. Mehr Demo­kra­tie­kom­pe­tenz ganz wun­der­bar. Es ist völ­lig in Ord­nung, sich auf eines die­ser Fel­der zu kon­zen­trie­ren. Das ist gut, aber man soll­te immer den gan­zen Krei­sel im Blick haben. Selbst­wirk­sam­keit allei­ne kann auch Arro­ganz statt Dis­kurs­be­reit­schaft gene­rie­ren. Wenn die­se Selbst­wirk­sam­keit nicht in par­ti­zi­pa­ti­ven Struk­tu­ren erlebt wird, son­dern auf Ein­kom­men, Bil­dung, Ein­fluss zum Bei­spiel der Eltern beruht. Oder ande­ren Pri­vi­le­gi­en. Eng­li­sche, aber auch deut­sche Pri­vat­schu­len kas­sie­ren Zig­tau­sen­de Euro Schul­ge­büh­ren von den Eltern ihrer Zög­lin­ge und pro­du­zie­ren am Fließ­band selbst­wirk­sa­me Men­schen, aber erstaun­lich weni­ge Demokraten.

Glei­ches gilt für die Dis­kurs­kom­pe­tenz. Red­ner­clubs sind an ame­ri­ka­ni­schen High­schools Stan­dard. Beson­ders beliebt: Red­ner­du­el­le, bei denen die Teil­neh­men­den erst Minu­ten vor dem Beginn ihre Posi­tio­nie­rung zu einem The­ma per Los zuge­teilt bekom­men. Das pro­du­ziert kom­pe­ten­te Dis­ku­tan­ten. Ob es auch glü­hen­de Demo­kra­ten pro­du­ziert, bleibt offen. Alle vier Fel­der soll­ten wir Demo­kra­ten also im Kopf haben, wenn wir Demo­kra­tie stär­ken wol­len, indem wir Demo­kra­ten ent­ste­hen las­sen. Und tat­säch­lich führt uns das dazu, dass wir hier nicht vier Hand­lungs­fel­der sehen, son­dern mehr.

Denn es sind eben auch die Ver­bin­dun­gen zwi­schen die­sen Fel­dern, die unse­rer beson­de­ren Für­sor­ge bedür­fen. Wenn aus Selbst­wirk­sam­keit Dis­kurs­be­reit­schaft ent­ste­hen soll, dann muss die­se Selbst­wirk­sam­keit auch dis­kurs­ba­siert zustan­de kom­men (und nicht durch Sekun­den­kle­ber auf der Stra­ße, durch das Anzün­den von Flücht­lings­wohn­hei­men oder durch den elter­li­chen Geldbeutel).

Wenn Dis­kurs­be­reit­schaft zu Dis­kurs­kom­pe­tenz füh­ren soll, muss es Ange­bo­te dazu geben. Durch attrak­ti­ve Betei­li­gungs­of­fer­ten, akti­vie­ren­de For­ma­te, reflek­tie­ren­de Pro­zes­se, qua­li­fi­zie­ren­de Mode­ra­ti­on. Wenn Dis­kurs- in Demo­kra­tie­kom­pe­tenz mün­den soll, dann braucht es Pro­zes­se, in denen Dis­kur­se ergeb­nis­be­stim­mend sind, vie­le Chan­cen zum „Gewin­nen“ und „Ver­lie­ren“ auch in klei­nen The­men gege­ben sind, Rück­schrit­te nicht als Pro­blem und wech­seln­de Mehr­hei­ten als erstre­bens­wert defi­niert sind. Und aus Demo­kra­tie­kom­pe­tenz kön­nen nur wei­te­re Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­run­gen ent­ste­hen, wenn wir das Prin­zip der per­ma­nen­ten Par­ti­zi­pa­ti­on leben.

„Demo­kra­tie stär­ken heißt Demo­kra­tie prak­ti­zie­ren. Und das braucht Pro­zes­se. Gut design­te Pro­zes­se. Pro­zes­se, die eben nicht auf Effi­zi­enz und opti­ma­le Ergeb­nis­se getrimmt sind.“

Demo­kra­tie hat kei­nen on/off-Schal­ter. Und schon gar kei­ne Fre­quenz, in der wir vier Jah­re lang in demo­kra­tie­frei­en Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Fir­men vor uns hin­ve­ge­tie­ren, dann plötz­lich auf­wa­chen, eine demo­kra­tisch bewuss­te Wahl­ent­schei­dung fäl­len um wei­te­re vier Jah­re erstaunt und frus­triert zu beob­ach­ten, was „die Poli­tik“ aus unse­ren Wäh­ler­stim­men macht.

Demo­kra­tie stär­ken heißt Demo­kra­tie prak­ti­zie­ren. Und das braucht Pro­zes­se. Gut design­te Pro­zes­se. Pro­zes­se, die eben nicht auf Effi­zi­enz und opti­ma­le Ergeb­nis­se getrimmt sind. Son­dern die Raum für Kon­flik­te vor­se­hen. Die Selbst­wirk­sam­keit nicht nur zulas­sen, son­dern aktiv ermög­li­chen. Die auf den Dis­kurs set­zen. Und dabei nicht auf Geschmei­dig­keit son­dern auf Unper­fek­ti­on. Das ist arbeits­sam, lang­sam, müh­sam. Aber alter­na­tiv­los. Demo­kra­tie wird stark, wenn sie prak­ti­ziert wird. Es sind eben nicht nur die Ergeb­nis­se, die zäh­len, son­dern der Weg, auf denen sie zustan­de kom­men. Es im Grun­de so, wie beim Sport. Jeder Leis­tungs­sport­ler ver­bringt den aller­größ­ten Teil nicht im Wett­kampf, son­dern beim Trai­ning. Wenn zum Bei­spiel ein Läu­fer sei­ne Leis­tung ver­bes­sern will, geht es im Trai­ning eben nicht dar­um, von A nach B zu kom­men. Son­dern die­sen Weg von A nach B mög­lichst anstren­gend zu gestal­ten. Und wenn er sei­ne Leis­tungs­kraft behal­ten will, dann macht er das immer wie­der. Tag für Tag. Das gilt auch für unse­re Demo­kra­tie: Sie wird stark, wenn mög­lichst vie­le Men­schen die Chan­ce haben, sie zu trai­nie­ren. Wenn wir die Men­schen an demo­kra­ti­schen Pro­zes­sen betei­li­gen. In unse­ren Kom­mu­nen, unse­ren Schu­len und Insti­tu­tio­nen. Beson­ders über­all da, wo Inklu­si­on ein The­ma ist. Oder Integration.

Gera­de da, wo ver­meint­lich die Gefahr besteht, die Effi­zi­enz von Pro­zes­sen zu gefähr­den, weil Men­schen mit­wir­ken sol­len, die angeb­lich zu wenig Kom­pe­ten­zen, fal­sche kul­tu­rel­le Prä­gun­gen oder zu abwei­chen­de Mei­nun­gen mit­brin­gen. Genau dann ent­steht Demo­kra­tie­po­ten­ti­al. Den­ken wir an unse­re Läu­fer: Der Nut­zen beginnt erst, wenn’s schwie­rig wird. Das sind die Pro­zes­se, die uns inter­es­sie­ren. Wenn das gelingt, dann ist ihr Design gut.

Und nun die Her­aus­for­de­rung für die Social Desi­gner unter uns:

Ein uni­ver­sel­les Design dafür gibt es nicht. Nicht mal uni­ver­sel­le Regeln. Denn gute Teil­ha­be ist eben­so divers, wie die Men­schen in unse­rem Land.  Es ist nicht nur so, dass die­se Men­schen oft ganz unter­schied­li­che, eige­ne, manch­mal sogar eigen­ar­ti­ge Vor­stel­lung von Gestal­tungs­pro­zes­sen haben. Oft ist es schwer, gera­de die Betrof­fe­nen über­haupt dafür zu gewin­nen. Manch­mal sind die Kon­flik­te unan­ge­nehm, manch­mal ver­lau­fen Debat­ten wenig wert­schät­zend. Kurz: Es gibt viel Feh­ler­po­ten­ti­al. Und das ist gut so. Genau das brau­chen wir. Weil social design in die­sem Sin­ne vor allem eine wesent­li­che Grund­hal­tung braucht: Demut.

Das Wis­sen dar­um, dass es die eine, uni­ver­sel­le Blau­pau­se für gute demo­kra­ti­sche Teil­ha­be­pro­zes­se nicht gibt. Was kein Dilem­ma ist. Son­dern eine Chan­ce. Denn für das Design die­ser Pro­zes­se heißt das: Es geht nicht dar­um, sie für die Men­schen zu gestal­ten. Son­dern mit ihnen. Social Design kann nur als par­ti­zi­pa­ti­ves Design gedacht und gelebt wer­den. Jeder Teil­ha­be­pro­zess ist anders. Darf anders sein. Ja muss es sogar. Denn die Stär­kung der Demo­kra­tie ist kein Pro­zess­ergeb­nis. Sie ist der Pro­zess. Und des­halb kön­nen Inklu­si­ons­pro­zes­se nur inklu­siv ent­wi­ckelt  wer­den. Inte­gra­ti­ons­pro­zes­se nur inte­gra­tiv. Par­ti­zi­pa­ti­ons­pro­zes­se nur par­ti­zi­pa­tiv. Design ist Gestal­tung: Und die Gestal­tung demo­kra­ti­scher Pro­zes­se ist kei­ne Auf­trags­ar­beit. Sie ist Demo­kra­tie. Oder nichts.

Wir kom­men zum Fazit: Die größ­te Gefahr für die Demo­kra­tie ist – wenn es zu wenig davon gibt. Das heißt auch: Wenn Men­schen mit Demo­kra­tie nichts anfan­gen kön­nen, soll­ten wir dar­über nach­den­ken, wie wir ihnen mehr davon anbie­ten kön­nen, statt weni­ger. Viel mehr. Viel öfter. Nicht viel ein­fa­cher. Aber viel wirk­sa­mer. Denn es ist genau die­se Gestal­tung der Vie­len, die jeden Tag immer wie­der zahl­lo­se Stun­den, viel Krea­ti­vi­tät, Fleiß, Emo­tio­nen und manch­mal auch eine gehö­ri­ge Por­ti­on Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz inves­tie­ren, um Gemein­wohl zu gene­rie­ren und unse­re Demo­kra­tie zu stär­ken. Und um Jan Böh­mer­manns Ansatz am Ende noch ein­mal in die­sem Sin­ne auf­zu­grei­fen: „Wer immer schon dar­an mit­ge­stal­ten woll­te, dass unse­re Demo­kra­tie ihr Poten­ti­al ernst­haft ent­wi­ckelt, lebt jetzt in der rich­ti­gen Zeit.“

Zitier­emp­feh­lung: Jörg Som­mer (17.10.2024): Design & Demo­kra­tie. War­um unse­re Demo­kra­tie mehr Design braucht. Und Design mehr Demokratie.Vortrag gehal­ten im Rah­men des Sym­po­si­ums der Social Design Days Nürn­berg am 9. Okto­ber 2024. https://bayern-design.de/beitrag/joerg-sommer-design-und-demokratie/

Jörg Som­mer

Jörg Som­mer ist Publi­zist und Grün­dungs­di­rek­tor des Ber­lin Insti­tut für Par­ti­zi­pa­ti­on. Außer­dem ist er seit 2009 Vor­stands­vor­sit­zen­der der Deut­schen Umwelt­stif­tung und Mit­her­aus­ge­ber der Zeit­schrift „movum“ sowie des Jahr­buch Öko­lo­gie. Er ist in zahl­rei­chen Bei­rä­ten und Gre­mi­en der Nach­hal­tig­keit aktiv, u. a. im Natio­na­len CSR-Forum sowie in der Kom­mis­si­on Lage­rung hoch radio­ak­ti­ver Abfallstoffe.

Jörg Som­mer beschäf­tigt sich seit vie­len Jah­ren mit Fra­gen der Demo­kra­tie und Bür­ger­be­tei­li­gung und ver­öf­fent­lich­te über 200 Bücher (Bel­le­tris­tik für Kin­der und Erwach­se­ne, Sach- und Fach­bü­cher), dar­un­ter bereits 1988 ein Hand­buch zur par­ti­zi­pa­ti­ven Bil­dungs­ar­beit mit jun­gen Men­schen. Das von ihm her­aus­ge­ge­be­ne Kurs­buch Bür­ger­be­tei­li­gung ist ein Grund­la­gen­werk gelin­gen­der Bür­ger­be­tei­li­gung. Sein wöchent­li­cher News­let­ter demokratie.plus beleuch­tet zahl­rei­che Aspek­te und Ent­wick­lun­gen unse­res poli­ti­schen Sys­tems, die er poin­tiert erklärt, kri­tisch hin­ter­fragt und mit inno­va­ti­ven Vor­schlä­gen ergänzt.

Jörg Som­mer ist Vater von vier Kin­dern und lebt in Süd­deutsch­land. Er wur­de für sei­ne Tätig­keit als Schrift­stel­ler, Demo­kra­tie- und Umwelt­ak­ti­vist mehr­fach aus­ge­zeich­net, u.a. mit dem Bun­des­ver­dienst­kreuz und dem Ver­dienst­or­den des Lan­des Baden-Württemberg.