Inklusion ist (Mehr)Wert. Barrierefreie Gestaltung
von Bettina Schulz
Auf den ersten Blick wirkt es fast skandalös, dass erst im Jahr 2025 Menschen mit Einschränkungen das Recht zugestanden wird, barrierefrei informiert zu werden. Auf den zweiten Blick ist es zudem absolut unverständlich, dass die Wirtschaft diese große – und wachsende – Zielgruppe bislang schlichtweg ignorierte. So ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das am 28. Juni 2025 in Kraft treten wird, keinesfalls eine Gängelung, sondern eine große Chance, Unternehmen zukunftssicher zu machen. Und hierbei ist die Kreativbranche mehr denn je gefragt.
Man muss nicht allzu tief recherchieren, um sich der Notwendigkeit eines möglichst barrierefreien Alltags bewusst zu werden: Ein Blick auf die demografische Entwicklung genügt – unsere Gesellschaft wird immer älter und bereits in wenigen Jahren beträgt der Anteil der über 67-Jährigen etwa 25 %. Damit gehen nicht nur weitreichende Anforderungen an Mobilitätsangebote einher; natürlich schwindende Sehkraft, die Abnahme von Reaktionsgeschwindigkeit sowie der kognitiver Leistung müssen zwangsläufig berücksichtigt werden. Darüber hinaus haben laut LEO-Studie von 2018 rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene unter 65 Jahren Leseschwierigkeiten – hiervon 52,6 % Muttersprachler. Auch die Gruppe von 7,8 Millionen Schwerbehinderten darf nicht vernachlässigt werden und zu guter Letzt sind temporäre Einschränkungen bei dieser Betrachtung zu bedenken. Jede:r von uns hatte bereits mit „Hirnnebel“ zu kämpfen und sei es nur während einer Erkältung.
Bewusstseinswandel
Dachte man bislang bei Barrierefreiheit vorrangig an Rollstuhl-Rampen oder Braille-Schrift, wird nicht nur, aber eben auch, die neue Gesetzgebung ganz andere Hindernisse ins Bewusstsein spülen. Und so wie die Rampe nicht nur Rollstuhlfahrer:innen, sondern auch Eltern mit Kinderwagen zugutekommt, wird das BFSG letztlich ein Gewinn für alle sein. Stellt dieses doch nun die Kommunikation und Informationspflicht in den Mittelpunkt und definiert „Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, die nach dem 28.06.2025 in den Verkehr gebracht bzw. für Verbraucherinnen und Verbraucher erbracht werden. Dies umfasst u. a. den gesamten Online-Handel, Hardware, Software, aber auch überregionalen Personenverkehr oder Bankdienstleistungen“ (Der Beauftragte der Bundesregierung für Informationstechnik). Betroffen sind Hersteller, Händler und Importeure von bestimmten Produkten sowie Dienstleistungserbringer; für Kleinstunternehmen gelten Ausnahmeregelungen. Angesprochen sollten sich jedoch durchaus alle fühlen, die zukunftsorientiert handeln und wirtschaften möchten – es ist schlichtweg fahrlässig, eine große Zielgruppe aus den Augen zu verlieren.
Gutes Design für Leichte Sprache
So der Titel eines eben erschienenen Buches, das die „Praxis und Theorie zur DIN SPEC 33429“ vielschichtig beleuchtet. Diese Norm wird künftig ein wichtiges Werkzeug in der Entwicklung barrierefreier Gestaltung sein – ein Regelwerk für die Übersetzung von Texten in Deutsche Leichte Sprache. Deren Grundsätze fließen wiederum in die Grafik ein und verstärken das ohnehin übergeordnete Prinzip des Designs: die zielgruppengerechte Aufbereitung von Inhalten.
Es darf als Novum bezeichnet werden, dass bei der Entwicklung der neuen Norm nicht nur Sprach- und Sozialwissenschaftler sowie Selbstvertretungen mitwirkten, sondern auch Gestalter. Wer, wenn nicht Designer sind in der Lage komplexe Sachverhalte verständlich zu visualisieren? So arbeitete auch Sabina Sieghart über vier Jahre ehrenamtlich in diesem Prozess mit, brachte ihre Expertise als Designerin, Dozentin und Designforscherin ein und ist Mitherausgeberin von „Gutes Design für Leichte Sprache“.
„Man muss im Prozess von Anfang an alle Adressaten mitdenken.“
Die Designerin und Designforscherin Sabina Sieghart im Interview mit Bettina Schulz
Frau Sieghart, warum war es überhaupt notwendig, eine neue Norm für Leichte Sprache zu entwickeln?
Beauftragt wurde diese vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, da das alte Regelwerk von Netzwerk aus dem Jahr 2014 einfach nicht funktioniert und sowohl in der Praxis als auch von der Forschung überholt wurde. Dabei war es wichtig, dass zum einen alle Gruppen an einem Tisch saßen und zum anderen Aspekte berücksichtigt wurden, die vorher nie einbezogen wurden. So wurde bislang die Gestaltung nahezu außen vor gelassen oder die Vorgaben hierzu wurden nicht von Gestaltern geschrieben und waren deswegen fehlerhaft bis falsch.
Was sind die größten Stolperfallen auf dem Weg zu barrierefreien Inhalten?
Häufig wird der Fehler gemacht, zuerst einen Text in schwerer Sprache oder eine ganze Website zu gestalten und dann zu versuchen, sie im Nachhinein zu vereinfachen und barrierefrei zu machen. Das ist oft schwierig und am Ende teuer. Man muss im Prozess von Anfang an alle Adressaten mitdenken.
Ergeben sich bei der Vielschichtigkeit der Einschränkungen nicht viele Gratwanderungen?
Nicht nur dabei. Ich habe beispielsweise die Schweizer Bundesregierung bei einem Portal (ch.ch) beraten, auf dem sich der Führerschein etc. in Leichter Sprache beantragt werden kann. Das war sehr kindlich gestaltet und eine Deutsche, die in der Schweiz lebt, erzählte mir, dass sie die Infos dort immer noch einmal auf dem offiziellen Portal sucht. Einfach, weil sie nicht glaubt, dass das die rechtliche, verbindliche Regelung ist. Dies ist mittlerweile natürlich behoben, zeigt aber ganz gut, dass bei Informationen von staatlicher Seite die Seriosität des Absenders auch in Leichter Sprache und adäquater Gestaltung unbedingt gewahrt bleiben muss.
Warum ist gerade die Online-Barrierefreiheit so wichtig?
Wir stellen fest, dass gerade Menschen mit Leseschwierigkeiten online sehr aktiv sind und dort Freiheit und Teilhabe erleben. Lesen fällt ihnen dort oft leichter und sie können auf ihrem Gerät z.B. eine größere Schrift einstellen. Und tatsächlich kann ich natürlich auch durch gute Gestaltung von Webseiten viele intuitive Design-Elemente einbauen, die einem erlauben, schnell zum nächsten Schritt zu kommen. Der entscheidende Punkt ist aber: Viele Dienstleistungen sind nur noch online verfügbar und sollten daher für alle Menschen zugänglich sein.
Inwieweit gibt „Gutes Design für Leichte Sprache“ Designern weiterführende Orientierung?
Die Motivation, dieses Buch zu veröffentlichen, lag darin, dass eine Norm mit ihrer formalen Sprache sehr schwer lesbar ist. In dem Buch finden sich neben Hintergründen aus der Forschung von 15 Expert:innen unterschiedlicher Bereiche auch viele praktische Beispiele. Es richtet sich sowohl an Studierende, die sich das erste Mal mit dem Thema beschäftigen, als auch an Lehrende, die tiefere Informationen benötigen und weitergeben wollen.
Wie hilft Design beim Verstehen?
Leichte oder zumindest Einfache Sprache ist ein großer Schritt der Inklusion. Beides kann aber nur in Zusammenhang mit der Gestaltung für mehr Barrierefreiheit sorgen.
- Verwenden Sie genretypische Gestaltung, d.h. eine Zeitung sollte auch aussehen wie eine Zeitung: Nutzerinnen und Nutzer Leichter Sprache erkennen den Gestaltungstyp und wenden gelernte Lesestrategien an.
- Verwenden Sie leserliche Schriften. Diese haben gut unterscheidbare Buchstabenformen (das kleine a unterscheidet sich vom kleinen o), sind gut erkennbar (keine ungewohnten Formen), haben offene Buchstabenformen und einen ausgewogenen Strichstärkenkontrast. Das kann auf Schriften mit und ohne Serifen zutreffen. Die lange empfohlene Arial entspricht diesen Kriterien beispielsweise nicht.
- Schaffen Sie eine Struktur: Unterschiedliche Staffelungen der Auszeichnungen strukturieren den Text und lenken die Leserinnen und Leser.
- Setzen Sie Texte linksbündig.
- Vermeiden Sie Text-Bild-Scheren.
- Nutzen Sie klare, scharfe Bilder.
- Bilder sollten nicht als Hintergrund genutzt werden.
Ohnehin ist die Bildwahl ein spezielles Thema der barrierefreien Gestaltung und sehr zielgruppenabhängig. Während ein Gärtner mit einer einfachen Illustration zum Rosenschnitt gut zurechtkommt, kann diese für jemand anderen mit kognitiver Einschränkung ein großes Rätsel darstellen. Auch vermeintlich einfache Piktogramme oder Zeichen können unter Umständen nicht ohne weiteres entschlüsselt werden – so wird die typische Verwendung von „§§“ für „Gesetzgebung“ oft als Doppel‑S gelesen. Es gibt jedoch bereits Datenbanken mit Leichte-Sprache-Bilder, die hilfreich bei der Umsetzung sind:
Nützliche Ressourcen
Auch vermeintlich nebensächliche Aspekte, wie das Durchscheinen von Schrift aufgrund einer dünnen Papierwahl, können für beeinträchtigte Menschen durchaus problematisch sein. Ein grundlegender Perspektivwechsel ist also notwendig, um die speziellen Bedürfnissen und die Wahrnehmung der Zielgruppe zu verstehen.
Eine noch so klare Gestaltung unter Einhaltung aller Regeln hilft jedoch nichts, wenn Texte nicht zielgruppengerecht geschrieben werden: Viele KI-Programme bieten bereits Übersetzung in Einfache Sprache an. Hier gilt jedoch – wie auch für Texte in schwerer Sprache –, dass eine Überarbeitung eigentlich immer notwendig ist. So sind Sätze oft viel zu lang, enthalten Fremdworte ohne Erklärung, Passivformen, den Genitiv oder aber zu lange Worte ohne Bindestriche. Einige grundlegende Regeln für Leichte und Einfache Sprache finden sich unter anderem auf den Webseiten der Lebenshilfen, zudem gibt es spezialisierte Texter.
Zu guter Letzt: Wer tatsächlich Informationen in Leichter Sprache veröffentlichen möchte, ist ohnehin auf eine Prüfgruppe angewiesen (angeboten z. B. von der Lebenshilfe Bremen). Hier gilt zu beachten, dass diese Prüfung einige Zeit in Anspruch nimmt und in der Projektplanung entsprechend berücksichtigt werden muss.
Barrierefreie Websites: Schritt für Schritt oder „alles auf Anfang“?
Bei barrierefreien Websites oder aber Corporate Designs verhält es sich wie bei ihren nicht-barrierefreien Pendants: Manches Mal ist ein radikaler Schnitt einfacher als Kosmetik zu betreiben. Was aber eigentlich immer glücken kann, ist, etwas Bestehendes zu optimieren. So ging beispielsweise die Berliner Designerin und Programmiererin Annika Brinkmann schon vor vielen Jahren immer wieder auf ihre Kunden proaktiv zu und brachte Barrierefreiheit ins Spiel. „Lange Zeit hieß es, das brauchen wir nicht. Irgendwann habe ich einem Auftraggeber quasi zwangsweise einen Dark Modus verpasst. Auch der hat zunächst den Nutzen für seine Kunden nicht erkannt, bis ich ihm erklärte, wie angenehm das auch für ihn selbst ist“, erzählt sie uns. Ihr kombiniertes Know-how aus Design und Programmierung gibt Annika Brinkmann inzwischen nicht nur in Kursen an der BHT weiter, sondern möchte zudem möglichst viele Menschen motivieren, barrierefrei Websites zu realisieren: „Es gibt zwar so ein paar ›low-hanging fruits‹, wie ALT-Texte bei Bildunterschriften, aber darüber hinaus noch unheimlich viel anderes zu berücksichtigen und umzusetzen“. Aus diesem Gedanken heraus entstand ihr freies Projekt „barrierefasten“. Auf dieser Website, die zur Fastenzeit entstand, ermöglichte sie Programmierer:innen, Tag für Tag eine Zeile Code zu verbessern. Sie selbst ist überzeugt davon, dass es möglich ist, die Online-Hürden für 95 % der Betroffenen zu senken – mit einem Konzept, bei dem Gestalter:innen, Texter:innen und Programmierende einbezogen wurden.
Design für alle!
Einig kann man sich daran sein, dass das neue BFSG einiges in Bewegung bringen wird – zwangsweise auf praktischer Ebene, aber vielleicht auch in den Köpfen von Unternehmen und Kreativen. Wie positiv sich barrierefreie Gestaltung letztlich für uns alle auswirken wird, wird wohl erst in einiger Zeit sichtbar werden. Die Kreativbranche sollte diesen Wandel jedoch heute schon als große Chance begreifen.